Aus der Bahn: Pendeln in der Wissenschaft
Mit dem Beginn der Vorlesungszeit geht für viele von uns das allwöchentliche Pendeln wieder los. Auch ich steige ab heute wieder zwei Mal pro Woche in Züge, um planmäßig ca. fünf Stunden pro Strecke von meinem Zuhause im Münsterland zu meinem Arbeitsplatz in Stuttgart und zurück zu fahren. Dabei habe ich im Pendellotto verspätungsmäßig den Hauptgewinn gezogen, denn auf meiner Pendelstrecke kommen beachtliche 88,5% der Züge verspätet an. Pendeln ist in der deutschen Wissenschaft nicht ungewöhnlich, schließlich sind Verträge meist auf wenige Jahre befristet, was häufige Arbeitsortwechsel mit sich bringt. Wer nicht ständig umziehen will oder kann, steigt oftmals in die Bahn, um vom Wohn- zum Arbeitsort zu gelangen. Anders als in Autos kann man in Zügen schließlich studentische Arbeiten korrigieren, am nächsten Antrag oder Aufsatz schreiben, E-Mails beantworten, Lehrveranstaltungen vorbereiten und sich per Zoom noch schnell einem Meeting zuschalten — soweit jedenfalls die Theorie. Was die Pendelei tatsächlich für das Berufs- und Privatleben bedeutet und wie hoch der Preis dafür in vielerlei Hinsicht ist: meine persönliche Perspektive darauf teile ich im heutigen Newsletter.
Und noch ein Disclaimer vorab: Wer sich nun einen Beitrag erhofft, der romantisierend darüber sinniert, über Schienen gleitend gelehrte Zeilen zu tippen, zwischendurch am dampfenden Kaffee zu nippen und gelegentlich leicht zerstreut einen Blick aus dem Fenster auf vorbeiziehende Landschaften zu werfen, dürfte vom Nachfolgenden eher enttäuscht sein. Selbiges gilt für die, die sich einen Essay über den desolaten Zustand der Deutschen Bahn wünschen (darüber habe ich an anderer Stelle bereits geschrieben, Survival-Guide inklusive).
Ruhe bewahren im ruhelosen Ruhebereich
In der besten aller Pendelwelten fährt mein Zug am Startbahnhof einigermaßen pünktlich ein. Wer — wie ich — sehr viel Zeit in Zügen verbringt, kennt wahrscheinlich den Automatismus: Kaum hingesetzt, wird der Laptop aufgeklappt und los geht es mit dem Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Volle Züge schränken den Bewegungsradius ein (genügend Platz für Laptops ist auf dem ausklappbaren Tischchen; Ausdrucke, Bücher und anderes passen dann aber nicht mehr drauf). In Zügen sind meist viele andere Menschen, und einige davon sind vergleichsweise laut (auch, ja, ganz besonders im Ruhebereich) — mitunter so laut, dass auch fancy Noise-Cancelling-Kopfhörer wenig dagegen ausrichten können. Wer sich mit den vielfältigen Möglichkeiten technisch unterstützter Geräuscherzeugung auseinandersetzen möchte, ist gut beraten, in Zügen Zeit zu verbringen: Da wird lautstark telefoniert und an Videokonferenzen teilgenommen (und auch wer neugierig darauf ist, was die Gesprächsteilnehmer_innen am anderen Ende der Leitung sagen, wird mitunter nicht enttäuscht, denn so mancher stellt die gleich auch noch auf laut). Da wird die ganze Vielfalt der Töne zu Gehör gebracht, die mobile Endgeräte erzeugen können: Klingeltöne, Nachrichtentöne, Tastentöne, und ja, auch Videos werden liebend gern mit Ton geschaut. Handelt es sich um einzelne Geräuschquellen, bitte ich diejenigen, zu denen sie gehören, inzwischen recht zügig darum, Töne auszustellen, Kopfhörer zu nutzen o.ä. Aber oft setzt sich die Kakophonie aus so vielen Quellen zusammen, dass ich eher versuche, die Geräusche auszublenden, als immer wieder neu Zugestiegene um Ruhe zu bitten, was mich jedes Mal aufs Neue aus der Arbeit herausreißt.
Das klingt jetzt alles ganz lustig und bietet reichhaltiges Material für Social-Media-Posts, aber um das klar zu sagen: Jede Woche in der Vorlesungszeit sieht ein beachtlicher Teil meiner Arbeitszeit in der Regel so aus. Ich arbeite mit Mini-Tisch in einem wackelnden Zug, muss wahlweise selber mehrfach aufstehen, wenn ich außen sitze und die Person am Fenster zum Klo oder ins Bordbistro oder sonst wo hin will oder mehrfach bitten, mal vorbei zu dürfen, wenn ich am Fenster sitze und zum Klo oder ins Bordbistro oder sonst wo hin will. Wenn ich Pech habe, ist der Stecker kaputt, Laptop laden fällt aus. W-LAN ist Glückssache (weshalb ich privat einen teuren Handyvertrag habe, um per Hotspot einigermaßen verlässlich ins Internet zu können). Die Klimaanlage auf meiner Verbindung kühlt den Zug während der Fahrt regelmäßig so weit runter, dass ich auf der Hinfahrt spätestens ab Köln im Wintermantel weiterarbeite. So vergehen jede Woche oft weit über zehn Stunden meiner Arbeitszeit — wirklich konzentriert arbeiten kann ich so nicht, sodass alles deutlich länger dauert, als es dauern könnte. Aber Moment: Weit über zehn Stunden? Habe ich über all der Bahnfrustration das Rechnen verlernt? Nein, siehe oben: Die Züge, in denen ich arbeite, sind eigentlich immer deutlich zu spät. Das heißt nicht nur, dass sich die Arbeitszeit unter erschwerten Bedingungen unkontrollierbar verlängert. Es heißt auch, dass noch weit mehr Arbeits- und Lebenszeit fürs Pendeln draufgeht — und Terminplanung an Bahnfahrtagen zur Herausforderung wird.
Deutsche Bahn is what happens to you while you’re busy making other plans
Für den Tag der Bahnfahrt Termine machen ist risikoreich, denn in aller Regel wird man nicht pünktlich ankommen. Es braucht also zeitliche Puffer. Von beachtlicher Länge. Ich habe das große Glück, dass es auf meiner Strecke einen durchgehenden ICE gibt und ich die Arbeit meist nicht für Aufenthalte auf unbestimmte Zeit in zugigen Umstiegsbahnhöfen unterbrechen muss. Aber dennoch gilt: Einen wichtigen Termin für den Bahnfahr-Tag ausmachen ist praktisch keine Option. Bei Terminen, zu denen ich notfalls später kommen kann, plane ich in der Regel mindestens drei Stunden Puffer ein. Das hat einen Preis für die gesamte Zeitplanung, und zwar nicht nur für die berufliche, auch für die private. Die vergangenen Semester sollte ich planmäßig am späten Nachmittag zurück in Münster sein — es wurde eigentlich immer später, weshalb ich mir private Abendtermine irgendwann gespart habe, denn die führten nur zu Frustration bei allen Beteiligten, wenn ich wieder irgendwo festhing („wir sind hier nochmal außerplanmäßig zum Halten gekommen“), während die Verabredung schon am reservierten Tisch im Restaurant saß. Ohnehin ist ein Privatleben nicht besonders kompatibel mit der Pendelei, zumal ich wegen der Länge der Strecke, die nicht täglich pendelbar ist, in Stuttgart jede Woche für mehrere Nächte in meiner kleinen Pendelwohnung bleibe und also an beiden Orten jeweils nur ein paar Tage in der Woche bin.
Zwei Kühlschränke sind einer zu viel, das dringend benötigte Buch ist immer in der anderen Wohnung und soziale Kontakte an zwei Standorten eine Herausforderung
Immer nur für ein paar Tage an einem Ort zu sein und dann wieder am anderen, führt nicht nur dazu, dass Ruhelosigkeit ein Dauerzustand ist (und man sich beim Aufwachen regelmäßig fragt, wo man sich eigentlich gerade befindet). Es ist auch eine logistische Herausforderung. An frischen Sachen zum Essen kaufe ich nur noch solche ein, die ich schnell verbrauchen kann, damit möglichst nichts verdirbt und weggeworfen werden muss. Vor jeder Fahrt muss ich mir sehr genau überlegen, was ich für die kommenden Tage am anderen Ort benötige — Bücher, Unterlagen, technische Geräte, Kleidung, Medikamente —, und das dann quer durch die Republik transportieren (und ggf. wieder zurück). Freund_innen an beiden Orten, die ihrerseits volle Zeitpläne haben und nicht ständig darauf warten, dass ich mal vor Ort bin und Zeit habe, sehe ich insgesamt zu selten, und sie überhaupt zu sehen, bedeutet einigen organisatorischen Aufwand. Ich habe keine Kinder, für die ich Sorgearbeit leiste, meine Familie ist nachsichtig mit mir, aber auch in meiner Konstellation muss ich Abstriche machen, was gemeinsame Zeit betrifft, und die treffen auch andere. Und wer jetzt sagt „oh, welch Luxus, zwei Wohnungen auf einmal“: Nun, zwei Wohnungen bedeutet auch: zwei Mieten zahlen. Und um von der einen zur anderen zu kommen, zahle ich eine Menge Geld fürs Bahnfahren, in meinem Fall mit BahnCard 100, die zwar den Vorteil der Flexibilität hat, aber extrem teuer ist.
Pendelkosten begleichen statt Rücklagen bilden
Wer — wie ich — jahrelang pendelt, zahlt dafür nicht nur mit Zeit und Nerven. Es kostet auch einfach unglaublich viel Geld: das Bahnfahren, die zweite Wohnung und das Drumherum. Dieses Geld würde ich liebend gern zurücklegen. Stattdessen wird es einfach aufgefressen, es ist dahin, ein beachtlicher Teil meines Einkommens unwiederbringlich weg, und all das einfach nur, damit ich meine Arbeit machen kann. Aber könnte ich nicht einfach nach Stuttgart ziehen, alle Zelte im Münsterland abbrechen, wäre das nicht etwas? Es vergeht kaum eine Woche, in der ich darüber nicht nachdenke. Aber es würde bedeuten, für eine Stelle, die maximal sechs Jahre läuft, die wenigen noch verbliebenen sozialen Kontakte im Münsterland (die auch schon unter vorherigem Pendeln gelitten haben) zurückzulassen. (Davon, dass Angehörige nicht ohne Weiteres mit mir nach Stuttgart umziehen könnten und wollten, einmal ganz zu schweigen.)
Früher die Weichen stellen für langfristige Perspektiven
Pendeln mag seine Vorteile haben, es mag von manchen explizit gewünscht sein. Aber viele — mich eingeschlossen — machen das nicht aus diesen Gründen, sondern weil sie es müssen, wenn sie den Spagat aus Berufs- und Privatleben irgendwie hinbekommen wollen. Es lohnt sich einfach nicht, an jedem neuen Ort stets aufs Neue ein soziales Netzwerk aufzubauen, von dem bereits zu Beginn klar ist, dass man es in wenigen Jahren zurücklassen muss, und dafür zugleich das bestehende Netzwerk zu gefährden, das unter dem Beruf ohnehin schon leidet. Viele deutsche Wissenschaftler_innen wären konzentrierter, könnten Beruf und Privatleben besser vereinen und dadurch nicht nur bessere Arbeit machen, sondern auch glücklicher sein und wären nicht zuletzt finanziell deutlich besser aufgestellt, wenn es endlich langfristige berufliche Perspektiven gäbe, die eine frühzeitigere Entscheidung für den eigenen Lebensmittelpunkt ermöglichen würden. Wer pendeln will, kann das dann immer noch tun — aber auf eigenen Wunsch und selbstbestimmt, nicht als Resultat einer verkorksten Personalpolitik des deutschen Wissenschaftssystems.