I Like to Move It: Für mehr Bewegungsfreiheit in der Wissenschaft
Wer mir auf Bluesky folgt, hat es vielleicht schon mitbekommen: Ich habe mit dem Laufen angefangen. Aber was hat das denn jetzt mit Arbeit in der Wissenschaft zu tun? Nun, einiges: Ein wesentlicher Grund für meine Entscheidung, mehrfach pro Woche zu laufen, liegt nämlich darin, dass mein Arbeitsalltag mit „bewegungsarm“ noch wohlwollend beschrieben wäre. Selbst, wenn ich mich nicht auf die Arbeitszeit fokussiere, die ich in Zügen verbringe (und über die ich hier kürzlich ausführlicher geschrieben habe), ist der körperliche Modus meiner Arbeit im Wesentlichen das Sitzen. Ich sitze, um Fachliteratur zu lesen, um Mails zu schreiben, um an Aufsätzen und Anträgen zu arbeiten. Ich sitze in zahlreichen Terminen und Sprechstunden (in Präsenz und nach wie vor auch oft via Zoom & Co.), ich sitze in teils langwierigen Gremiensitzungen, abends sitze ich in Abendvorträgen und anschließend mit Kolleg_innen und Vortragenden beim Abendessen. (Nur in meinen Lehrveranstaltungen stehe ich und gehe herum, weil ich das dort immerhin machen kann.) Auf Konferenzen und Workshops potenziert sich mein ohnehin schon recht eklatanter berufsalltäglicher Bewegungsmangel sogar, denn zumindest gehe ich im üblichen Arbeitsalltag gelegentlich noch vom Büro zum Seminarraum und wieder zurück. Konferenzen hingegen konzentrieren sich meist auf einen Ort, ihr Programm sieht oft nur spärliche Pausenzeiten vor, und die werden dann durch das Überziehen von Zeitslots nicht selten noch weiter zusammengestaucht.
Das aus all diesen Dingen resultierende Setting des ständigen Sitzens hat Anlass zu meiner Laufpraxis gegeben, denn sie erlaubt es mir, in einem möglichst knappen Zeitrahmen möglichst viel Bewegung unterzubringen (und zwar so gut wie überall, wo ich gerade bin, solange ich Laufklamotten im Gepäck habe). Das soll jetzt aber kein Plädoyer dafür werden, dass Wissenschaftler_innen (soweit sie es können und wollen) ebenfalls mit dem Laufen starten sollten (auch, wenn ich zu Protokoll geben kann, dass mir das wirklich gut bekommt). Nein, ich möchte auf etwas anderes hinaus: Wir sollten unsere Zeitpläne und mit ihnen die Art, wie wir arbeiten, einmal gründlich überdenken — und mehr Freiräume schaffen: für körperliche Bewegung allein und mit anderen, aber auch für Phasen der Selbstbestimmung und gedankliche Bewegungsfreiheit, die in einem allzu dicht mit Arbeit angefüllten Zeitplan deutlich zu kurz kommen.
Ehe ich mich diesen Überlegungen im Detail widme, möchte ich noch einem naheliegenden Einwand vorgreifen: Ja, mir ist bewusst, dass einige der hier geschilderten Probleme nicht exklusiv für den Wissenschaftsbetrieb sind. Aber: Dass es in anderen Bereichen eine ähnliche Problematik gibt, spricht kein bisschen dagegen, für den Bereich, in dem wir selbst unterwegs sind, nach guten Lösungen zu suchen!
Achtung: An den Köpfen von Wissenschaftler_innen hängen auch noch Körper dran!
Wann immer Wissenschaftler_innen auf ihre Köpfe reduziert werden (etwa, wenn jemand aus dem BMBF mal wieder darüber schwadroniert, man müsse die ‚besten Köpfe‘ gewinnen und halten — was leider ungefähr das Gegenteil dessen ist, was das BMBF tatsächlich tut), ist mein erster Gedanke: Moment mal! Wissenschaftler_innen bestehen nicht bloß aus Köpfen! Das klingt zunächst so trivial, dass man es hier gar nicht erst festhalten muss — ist es aber nicht. Denn der berufliche Alltag von Wissenschaftler_innen lässt diesen Umstand oftmals sehr großzügig außer Acht. Ich komme noch einmal auf das Beispiel der Tagungen zurück: Die starten oft gegen 9 Uhr am Morgen. Bei Mittagspausen kann man froh sein, wenn die länger als eine Stunde dauern. Auch Kaffeepausen, die länger sind als eine Viertelstunde, sind eher nicht die Regel. Werden die vorgesehenen Zeitslots für Vorträge und Diskussionen nicht eingehalten (was oft der Fall ist), dann schrumpfen die Pausenzeiten weiter zusammen. Auch Konferenzdinner schließen nicht selten so unmittelbar an das Tagungsgeschehen an, dass man zwar gerade noch rechtzeitig zum Restaurant gelangen kann — das war es dann aber auch schon mit der Pause vor dem Abendessen. Dann sitzt man im Restaurant, geht relativ spät ins Bett, und am Morgen beginnt das Ganze von vorn.
Mehr Möglichkeiten für Bewegung zu schaffen, ist ein guter Grund dafür, Pausen großzügiger einzuplanen und dann auch einzuhalten. Aber es ist bei Weitem nicht der einzige: Natürlich können oder wollen nicht alle Wissenschaftler_innen Pausen auf Konferenzen für Bewegung nutzen. Was Menschen für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden brauchen, ist individuell sehr unterschiedlich. Das kann auch der kurze Rückzug aus dem sozialen Dauerprogramm sein, das eine Konferenz mit sich bringt. Das Durchatmen, Für-sich-Sein. Oder aber der Austausch mit bestimmten Kolleg_innen in kleinerem Kreis. Nicht zuletzt für Wissenschaftler_innen, die gesundheitliche Einschränkungen haben, können zeitliche Freiräume enorm wichtig sein, weshalb bewusst eingeplante und sorgfältig behütete Pausenzeiten auch einen Beitrag zu einem inklusiveren Arbeitskontext leisten können.
Wichtig sind Pausen aber auch, weil sie uns Gelegenheit geben, in einem ansonsten durchgetakteten, in vielerlei Hinsicht fremdbestimmten Arbeitsalltag zumindest für einen kurzen Moment selbstbestimmt über unsere Zeit zu verfügen und sie bestenfalls mit etwas zu füllen, was wir tun möchten und was uns guttut. Ich breche deshalb auch nicht in Begeisterungsstürme aus, wenn mir Kolleg_innen vor ihrem Vortrag konspirativ zuraunen, sie würden ja die vorgesehene Vortragsdauer ganz sicher überziehen, weil ich dann meine ohnehin knapp bemessene Pausenzeit weiter dahinschmelzen sehe — und diese Zeit ist mir sehr wertvoll.
Aber es sind nicht nur die, die Vortragszeiten nicht einhalten, es sind auch die Organisator_innen von Tagungen und Workshops (und da bin ich explizit mitgemeint), die gut daran täten, Pausen ausreichend Raum zu geben. Nicht nur, weil mit erholteren Tagungsteilnehmer_innen produktivere Tagungen möglich sein dürften. Auch, weil sich (jedenfalls nach meiner Erfahrung) viele wissenschaftlich ertragreiche Diskussionen, neue Kollaborationen und Gedankenanstöße eben nicht während der Diskussionen im Plenum ergeben, sondern in den Pausen. In den Pausen lassen sich Überlegungen ausprobieren, die noch nicht zu Ende gedacht sind, und Fragen aufwerfen, die man nicht in der großen Runde stellen möchte. (Dass es gut wäre, wenn Fragen nach Vorträgen nicht der eigenen Profilierung dienen müssten, sondern aus echtem Interesse heraus gestellt werden könnten, ist ein weiteres Thema, das wir als Wissenschaftscommunity gemeinsam angehen sollten. Bis das geschehen ist, sind für prekär beschäftigte Promovierende und Postdocs geschützte Räume zum Diskutieren besonders wichtig, weil sie dort nicht unter der Beobachtung ihrer Fachcommunity stehen, die in Teilen zukünftig über ihre Weiterbeschäftigung entscheidet.)
Wissenschaft in Bewegung bringen
Abgesehen davon — und damit komme ich noch einmal zum Thema Bewegung zurück — müssen auch gar nicht alle Tätigkeiten, die wir momentan im Sitzen ausführen, zwingend sitzend absolviert werden. Dabei muss es gar nicht das Laufband im Büro sein, auf dem eine Kollegin von mir regelmäßig ihre Videokonferenzen bestreitet. Mit großem Interesse habe ich den Call for Hiking von Joana van de Löcht und Niels Penke zur Kenntnis genommen: In einem von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt verbinden die beiden wissenschaftlichen Austausch mit Wandern. Das ist sicherlich nicht für alle Wissenschaftler_innen eine Option (auch, weil nicht alle über die körperlichen Voraussetzungen dafür verfügen). Aber es zeigt, dass in die Formate wissenschaftlichen Austauschs bereits ein wenig Bewegung hineinkommt (pun intended). Sicherlich lassen sich die meisten Gremiensitzungen nicht mal eben in einen Wandertag verwandeln. Aber hier ließe sich zumindest fragen, ob man bei Sitzungen, die zwei Stunden und länger dauern, nicht zumindest eine kurze Pause einbaut (ja, es dauert dann alles insgesamt noch länger, aber ganz ehrlich, auf die zehn Minuten kommt es dann auch nicht mehr an). Bewegte Sprechstunden mit Studierenden, die das auch wollen, könnten eine weitere Option sein. Ebenso gemeinsame Spaziergänge mit Kolleg_innen statt des obligatorischen Termins im Büro. Und was die Abendtermine betrifft (die noch einmal einen eigenen Newsletter-Beitrag verdient haben), wäre es ebenfalls wünschenswert, wenn ihr Besuch nicht weiterhin selbstverständlich bis obligatorisch wäre. (Wissenschaftler_innen mit Kindern können dazu noch ganz andere Dinge sagen als ich. Aber auch als Kinderlose bin ich froh, wenn mein Arbeitstag nicht erst gegen 22 Uhr endet.)
Ständiges Sitzen und wenig Bewegung sind nicht gesund — das ist nicht neu und durch zahlreiche Studien belegt. Wir opfern in der Wissenschaft ohnehin schon sehr viel Zeit unseres Lebens für unseren Beruf, Überstunden eingeschlossen. Für diejenigen, die keine unbefristete Beschäftigung haben, wird sich das höchstwahrscheinlich nicht auszahlen, weil die meisten aus dem System fliegen, statt eine Beschäftigung auf Dauer zu erhalten — auch das ist bekannt. Wer so viel Einsatz bringt für die akademische Karriere, sollte nicht auch noch mit der eigenen Gesundheit und dem eigenen Wohlbefinden für die Minimalchance einer dauerhaften Beschäftigung bezahlen müssen.
Es ist daher an der Zeit, wissenschaftliches Arbeiten neu zu gestalten: Indem wir ausreichend Freiräume und Erholungszeiten einplanen, Zeitpläne einhalten und Wissenschaftler_innen nicht weiter behandeln wie vom Körper losgelöste Gehirne ohne körperliche Bedürfnisse — und Beschränkungen. Denn ja, wir alle haben einen Körper, der es verdient, sich nach individuellen Wünschen und Möglichkeiten auszuruhen, wohlzufühlen und nach Bedarf zu bewegen. Die Wissenschaft kann davon am Ende auch nur profitieren — gesunder Körper, gesunder Geist, Ihr wisst schon. Also los: Bringen wir die starre wissenschaftliche Arbeitswelt gemeinsam in Bewegung!