Mut zur Absage: Warum Zusagen in der Wissenschaft nicht über allem stehen sollten
Man kann viel Schlechtes über die Sozialen Medien sagen, aber für mich ist eines unstrittig: Neben den Erfolgen von #IchBinHanna und den vielen tollen Menschen, die ich ohne Soziale Medien vermutlich niemals kennengelernt hätte, möchte ich auch die Gedankenanstöße nicht missen, die ich dort immer wieder bekomme — nicht nur, aber auch aus der Wissenschaftscommunity. Anlass zum anhaltenden Nachdenken gab mir am Sonntag ein Bluesky-Post von Paula Villa Braslavsky (die auch über ihre Fachcommunity hinaus vielen dank ihrer Verdienste in der Wissenschaftskommunikation und als #ProfsFürHanna-Mitinitiatorin bekannt sein dürfte):
Der Post hat aus meiner Sicht mit guten Gründen einiges an Resonanz gefunden. Mich selbst hat er vor allem berührt, weil ich mich im Zuge meiner Tätigkeit als Wissenschaftlerin — und auch meines Engagements für #IchBinHanna — bislang nur äußerst selten getraut habe, etwas abzusagen. Egal aus welchem Grund. Ich habe mich gefragt, woran das eigentlich liegt — und möchte darüber im heutigen Newsletter reflektieren.
Was ich gern abgesagt hätte, Teil 1: Wenn es mir körperlich schlecht ging
Dass Kranksein in der Wissenschaft eigentlich keinen Platz hat, darüber habe ich in diesem Newsletter schon häufiger geschrieben. Man könnte allgemeiner sagen, dass es nicht vorgesehen ist, einen Körper zu haben, der gemessen an den Maßstäben des auch die Wissenschaft längst durchdringenden neoliberalen Immer-Liefern-Müssens auch mal nicht ‚funktioniert‘. Wenn ich zurückblicke, muss ich feststellen, dass ich aufgrund von körperlichen Beschwerden bisher überhaupt nur dann etwas abgesagt habe, wenn ich etwas Ansteckendes hatte oder wenn wirklich gar nichts mehr ging (hohes Fieber usw.). Und das dann auch nur, wenn das exakt den Tag betraf, an dem das zu Liefernde anstand. Dass man in aller Regel Vorträge und sonstige öffentliche Auftritte vorbereiten muss und man das eigentlich besser lassen sollte, wenn man krank ist, habe ich mit aller mir möglichen Härte gegen mich selbst ausgeblendet. Als ich meine erste COVID-Infektion hatte, stand ein digitales Vorsingen an. Es hatte mich ziemlich heftig erwischt, ich lag einige Tage komplett flach. Als ich mich endlich freitesten konnte, blieben mir noch drei Tage für die Vorbereitung. Ich habe das durchgezogen, es gab immerhin einen Listenplatz, berufen wurde ich nicht. Dass diese Vorbereitung kein Vergnügen war, muss ich nicht ausführen. Bei einem anderen Vorsingen hatte ich zum Glück starke Schmerzmittel dabei, denn ohne sie hätten die Menstruationskrämpfe wohl dafür gesorgt, dass ich das Vorsingen gekrümmt auf dem Boden liegend hätte bestreiten müssen. (Wer diese Art von Schmerzen noch nicht erlebt hat und glaubt, dass ich übertreibe: You have no idea.) Auch in diesem Fall wäre es mir nicht im Traum eingefallen, abzusagen. Die Abwägung war klar: Lieber mich und meinen Körper quälen, um die Minimalchance auf eine Fortsetzung meiner wissenschaftlichen Karriere zu erreichen, als auf meine Bedürfnisse zu hören. (Im zweiten Fall kam sicherlich hinzu, dass Menstruationsbeschwerden — zumal in meinem Fach, dessen Mitglieder wohl überwiegend von diesen Beschwerden verschont bleiben dürften — immer noch ein solches Tabu sind, dass ich es damals nicht riskieren wollte, offen darüber zu sprechen. Dass ich das hier heute hinschreibe, fällt mir insofern auch nicht ganz leicht — aber es wird Zeit für mehr Offenheit, was dieses Thema anbelangt.)
Was ich gern abgesagt hätte, Teil 2: Wenn ich geistig und/oder psychisch erschöpft war
Allerdings gibt es auch die anderen Fälle, in denen nicht (primär) körperliches Unwohlsein dazu geführt hat, dass ich Dinge hätte absagen wollen. Da gab es die Fälle, in denen ich geistig sehr erschöpft oder aus anderen Gründen nicht imstande war, meinen Kopf um das herumzubekommen, was ich da mit Argumenten anstellen wollte. Ich habe hier neulich schon einmal darüber geschrieben, wie angsteinflößend diese Art des kognitiven Scheiterns ist — und das gilt insbesondere bei der Vorbereitung von Vorträgen, in denen man vor Mitgliedern der eigenen Fachcommunity performen muss, von denen einige ziemlich sicher irgendwann einmal über die eigene berufliche Zukunft entscheiden werden (und es gilt übrigens einmal mehr angesichts der Tatsache, dass man in meinem Fach in Diskussionen oft sogar dann erbarmungslos zerlegt wird, wenn man zuvor eine ziemlich wasserdichte Argumentation präsentiert hat). Offensiv mit den Leerstellen, Unsicherheiten und Schwierigkeiten umzugehen, die mich in diesen Situationen jeweils umgetrieben haben, und sie zum Gegenstand meines Vortrags zu machen, hätte ich nicht gewagt. Hier zeichnet sich bereits ein Muster ab: Erneut habe ich mich irgendwie gezwungen, etwas fertigzumachen, den Schein zu wahren, weil ich befürchtet habe, dass alles andere negative berufliche Konsequenzen gehabt hätte.
Was ich gern abgesagt hätte, Teil 3: Wenn die Zeit nicht reichte
Und schließlich gab es da noch die Situationen, in denen mir eine furchtbar wichtige Sache fürs Nachdenken fehlte: Zeit. Ich sage nach wie vor sehr viel öfter Dinge zu als ab. Vor einer Weile habe ich halb im Scherz zu Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon gesagt, das Gute an der sich daraus ergebenden hohen Frequenz von Verpflichtungen sei, dass ich keine Zeit zum Nachdenken habe und einfach immer funktioniere (— es ist dann übrigens auch keine Zeit dafür da, nervös zu werden). Ich bin gut damit beschäftigt, die Bälle zurückzuspielen, die mir zugespielt werden. Routinen (im Vortragen, im Vorbereiten von Vorträgen usw.) helfen enorm. Aber die sind auch kein Garant dafür, dass ich alles so auf die Kette bekomme, dass es nicht ätzend wird — besonders, wenn der Zeitplan über Wochen auf Kante genäht ist.
Es gibt zwei deutliche Indikatoren dafür, dass ich eine Pause brauche: Zum einen, dass die Konzentration nachlässt (jemand stellt nach einem Vortrag zwei Fragen, ich beantworte die erste und habe die zweite dabei vergessen — passiert mir auch schon mal, wenn ich fit bin, aber deutlich häufiger, wenn ich eigentlich nicht mehr kann). Zum anderen beginnt die Vorfreude zu verblassen, also, so ganz allgemein. Eigentlich bin ich oft ziemlich zuversichtlich unterwegs und kann mich ordentlich auf Dinge freuen (— das Wochenende! Ein Konzert! Ein schönes Abendessen! Zeit mit lieben Menschen! Den nächsten Laufwettkampf!). Wenn ich diese Vorfreude nicht mehr so recht spüren kann, ist das ein sehr deutliches Warnsignal.
Was aber, wenn da noch einige Zusagen sind, die ich getätigt habe, Zusagen, die es mir nicht erlauben, voll auf die Bremse zu treten und mich erstmal aus allem rauszuziehen, zumindest für ein paar Stunden (denn das ist es, was ich brauche, um die Vorfreude wiederzubeleben)? Auch in solchen Situationen habe ich nie etwas abgesagt. Ich habe es durchgezogen. „Reiß Dich zusammen“, habe ich mir gedacht. Das hat meine psychische Gesundheit ganz sicher belastet. Und auch hier war immer wieder die treibende Kraft, dass ich Sorge hatte, meine sogenannte wissenschaftliche Karriere würde Schaden nehmen, wenn ich absage. Dass ich überhaupt so viel zugesagt habe, war über Jahre vor allem der ständig vorhandenen diffusen Angst geschuldet, eine wichtige Chance zu verpassen, um mich zu profilieren, um zu netzwerken, um irgendwie noch ein paar Wahrscheinlichkeitspünktchen dafür zu sammeln, dass es mit der Wissenschaft und mir doch noch längerfristig was wird. FOMO in der Academia-Edition, befeuert durch die berufliche Unsicherheit, die jeden meiner Schritte begleitet. Immer. Und es ist im Interesse der eigenen psychischen Gesundheit sicherlich nicht ratsam, die eigene Erschöpfung regelmäßig auszuhalten und wegzudrücken, aus Angst, berufliche Chancen zu verpassen.
Rahmenbedingungen schaffen zum Absagen, wo es nötig ist
Ich bin Paula Villa Braslavsky von Herzen dankbar dafür, dass sie mich mit ihrem Post dazu gebracht hat, über all diese Dinge nachzudenken. Wir brauchen solche Role Models, gerade unter den Professor_innen, die offen und authentisch die unerbittlichen Spielregeln der Academia als solche entlarven und herausfordern. Und wir brauchen zugleich ihre Sensibilität dafür, dass ein Nicht-Beachten der Spielregeln in Academia für einige von uns mit größeren Risiken verbunden ist als für andere (s. die Antwort unten auf meinen Post). (Nota bene: Auch ich bin in diesem System als bereits promovierte Juniorprofessorin in einer sehr viel sichereren Position als viele, viele andere.)
Klar ist, dass wir andere Arbeitsbedingungen brauchen, damit Wissenschaftler_innen nicht weiter Getriebene der Schneller-Höher-Weiter-Logik eines Wissenschaftssystems sind, das die Leute so lange antreibt, bis sie sich im Versuch, jede noch so kleine Karrierechance bestmöglich zu nutzen, überschlagen und zu Fall kommen. Nicht selten mit gesundheitlichen Blessuren, manche davon nicht ohne Weiteres kurierbar. Ich möchte in einem Wissenschaftssystem arbeiten, in dem Menschen selbstbestimmt absagen — und auch von vorn herein von einer Zusage absehen — können, weil sie dafür gute Gründe haben. Und zu diesen guten Gründen soll zählen dürfen, dass alles andere Selbstausbeutung und Raubbau an der eigenen Gesundheit wäre. Dass die Erschöpfung, ob körperlich oder geistig, es nicht erlaubt, das Zugesagte ohne Quälerei zu liefern. Und dass manche wissenschaftlichen Vorhaben einfach nicht so aufgehen wie erhofft oder geplant. Damit wir da ankommen, braucht es selbstverständlich weiterhin die Arbeit am System selbst, an seinen Arbeits- und sonstigen Rahmenbedingungen, und da bleiben wir natürlich dran. Aber zugleich lohnt es sich, auch weiter auf einen Kulturwandel hinzuarbeiten. Offener miteinander zu sein. Verständnisvoller. Es ist schlimm genug, dass das System uns mit ungebührlichen Härten konfrontiert, die uns treffen und ausbremsen (einige von uns sogar mehr als andere). Da sollten wir nicht auch noch hart zueinander sein. Und genauso wenig zu uns selbst. Wenn wir dieser Härte eine Absage erteilen, dann ist bereits der erste Schritt getan, dort, wo es nötig ist, auch anderes mutig abzusagen!