Unser Wissenschaftssystem umgestalten: Gemeinsam erreichen wir mehr
Wer unserem Wissenschaftssystem eine Mängelliste ausstellen will, ist erst einmal gut beschäftigt: Ohne Frage läuft hier einiges schief. Zu denken wäre etwa an das wissenschaftliche Publikationssystem, in dessen Rahmen seit geraumer Zeit tonnenweise öffentliche Gelder an Großverlage verpulvert werden: Früher lief das über Abo-Modelle, heute über Article Processing Charges; von der Arbeitsleistung der Wissenschaftler_innen, die das System am Laufen hält, einmal ganz zu schweigen. Da sind die schiere Unwucht der Drittmittel bei gleichzeitig spärlich ausfallender Grundfinanzierung, die Allgegenwart wettbewerblicher Verfahren und die Überbetonung von quantitativen Faktoren für Reputation und Evaluation. In vielen Fächern kommen auf zu wenige Lehrende zu viele Studierende, entsprechende Betreuungsverhältnisse werden durch das Kapazitätsrecht zementiert. Fehlanreize prägen die Lehre — es gilt, möglichst viele Studierende möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, was nicht selten der Qualität der Lehre, der Betreuung und der Abschlüsse zuwiderlaufen dürfte. Wissenschaft als Beruf ist gekennzeichnet von Kettenbefristungen und Perspektivlosigkeit. Vollzeitarbeit auf Teilzeitstellen, unbezahlte Mehrarbeit, Mobilitätszwänge, entgrenzte Arbeitszeiten, permanenter Druck usw. gehören für viele Wissenschaftler_innen zum beruflichen Alltag.
Schon jetzt eine ziemlich erschlagende Liste, oder? Und ich habe gerade erst damit begonnen, einige Punkte darauf zu notieren. Es gäbe sicherlich noch einiges, das zu ergänzen wäre. Bei dieser Vielfalt der Probleme und Baustellen mögen sich schnell Frustration und Resignation einstellen. Und ja, diese Reaktionen kenne ich auch von mir selbst. Aber sie halten bei mir nie besonders lange an: Da ist ein gewisser Optimismus, eine Zuversicht, eine einigermaßen unerschütterliche Hoffnung, die mich jedes Mal aufs Neue motiviert, es doch zu versuchen. Es irgendwie anzugehen. Die Sache mit der Umgestaltung des Wissenschaftssystems in Angriff zu nehmen. Nicht an allen Baustellen gleichzeitig, klar, das wäre nicht zu schaffen. Aber doch jeweils an denen, die gerade besonders dringend, naheliegend oder aussichtsreich sind.
Dass diese Motivation sich bei mir immer wieder einstellt, hat einen Grund: Spätestens seit #IchBinHanna weiß ich, dass ich mit den Baustellen und ihren problematischen Effekten nicht alleine bin. Da sind sehr viele andere, die den Wunsch nach Veränderung hegen. Die sich nicht zufriedengeben mit diesem mangelhaften System und seinen ganzen negativen Folgen auf Wissenschaft und Bildung sowie auf die Menschen, die darin unterwegs sind. Und darum soll es heute in diesem Newsletter gehen: Um den Mut zum Gestalten. Um vereinte Kräfte. Darum, einander gegenseitig zu bestärken und mitzureißen. Um die Fragen, was es dafür braucht — und warum es sich lohnt, dranzubleiben, in dem Rahmen, in dem es jede_r von uns kann und möchte.
Gemeinsam aufräumen mit vermeintlichen Selbstverständlichkeiten
Alles prima mit den Arbeitsbedingungen im deutschen Wissenschaftssystem?! Mit #IchBinHanna ist öffentlichkeitswirksam deutlich geworden, dass dem nicht so ist. Ich habe immer wieder Zwischenresümees verfasst, die einzelne politische (und mediale) Erfolge unserer Initiative zusammenfassen. Heute möchte ich es allgemeiner halten. Was wir an #IchBinHanna sehen, ist nämlich auch dies: Wenn viele Leute gemeinsame Sache machen, ist eine Menge möglich. Wer heute überhaupt noch das deutsche Wissenschaftssystem mit seinen Arbeitsbedingungen preisen möchte (allzu viele sind es ja nicht mehr), muss das aus der Defensive heraus tun. Denn wir haben mit #IchBinHanna alle gemeinsam dafür gesorgt, dass es nunmehr rechtfertigungsbedürftig ist, eine Generation von Wissenschaftler_innen nach der nächsten nach 12 Jahren prekärer Beschäftigung vor die Tür zu setzen. Zusammen haben wir aufgeräumt mit dem absurden Framing, dass Menschen mit Mitte 40 (die mindestens promoviert und obendrein oft habilitiert sind und die mitunter bereits erwachsene Kinder haben) nach wie vor als Nachwuchs gelten. Haben mit vereinten Kräften die Auffassung aus der Welt geschafft, dass man sich nicht über unbezahlte Überstunden, verfallene Urlaubstage, überzogene Erwartungen an Dauererreichbarkeit und Mobilität beschweren dürfe, weil Arbeit in der Wissenschaft schließlich Berufung, Privileg und Mittel zur Selbstverwirklichung sei. Wir haben stattdessen deutlich gemacht, dass wissenschaftliche Arbeit genau das ist: Arbeit. Und als solche fairer Arbeitsbedingungen bedarf, wie jede andere Arbeit auch.
All das war möglich, weil wir es gemeinsam getan haben. Indem wir uns überhaupt erst einmal darüber ausgetauscht haben. Uns einander anvertraut haben, wodurch strukturelle Probleme und Absurditäten des Systems überhaupt erst zutage treten konnten. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist der Umgang mit Erwerbsarbeitslosigkeit in der Wissenschaft. Ich habe selbst lange über meine eigene Erfahrung damit geschwiegen. Habe die Zeiten, in denen ich ALG bekommen habe, bestmöglich zu kaschieren versucht. Nach und nach habe ich mich aber doch getraut, zu sagen: Ich habe auf ALG fertig promoviert. Das lag nicht zuletzt an der Vorgänger-Initiative zu #IchBinHanna, die Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon und ich im Oktober 2020 angestoßen haben: #95vsWissZeitVG, 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Die Thesen, die wir damals gesammelt haben, waren (anders als später die Erfahrungsberichte unter #IchBinHanna) noch sehr abstrakt gehalten. Aber sie haben bereits eindrücklich gezeigt, an wie vielen Stellen das deutsche Wissenschaftssystem dysfunktional, problematisch und unfair ist.
Im März 2021, ziemlich genau drei Monate, bevor es mit #IchBinHanna losging, habe ich auf Twitter dann nachgefragt, wer während der Promotions- oder Habilitationsphase erwerbsarbeitslos war und sich zeitweise mit ALG, Hartz IV oder Erspartem finanzieren musste. Die Resonanz auf meine Frage hat mich tief beeindruckt — und Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon und mich dazu veranlasst, einen Text zu schreiben, in dem wir das Thema Erwerbsarbeitslosigkeit unter deutschen Wissenschaftler_innen als Forschungsdesiderat benennen (eines, das meines Wissens bislang immer noch nicht gefüllt ist).
Drei Monate später ging es los mit #IchBinHanna und wir hatten plötzlich zahlreiche Interviewanfragen. Das mediale Interesse an unserer Initiative war enorm. Und ich habe im Zuge dessen entschieden, die Erwerbsarbeitslosigkeit nicht auszulassen, wenn ich meine Geschichte erzähle. Das ging, weil ich mich nicht mehr dafür geschämt habe. Das habe ich nämlich an diesem Punkt schlicht nicht mehr eingesehen. So vielen Kolleg_innen ging es ähnlich wie mir, teils waren ihre Situationen noch deutlich schwieriger (ich hatte immerhin ALG für eine 50%-E12-Stelle und nicht Hartz IV, plus finanzieller Unterstützung meiner Eltern)! Meine akademische Vita war plötzlich präsent in diversen Zeitungen, im Radio, in Podcasts und YouTube-Videos — die Phase der Erwerbsarbeitslosigkeit inklusive. Und daran konnten auch Mitglieder unserer Gesellschaft, die nicht mit dem Wissenschaftssystem vertraut sind, exemplarisch sehen, dass im System einiges schiefläuft.
Der Anfang der gemeinsamen Umgestaltung — sei es im ganz Großen (WissZeitVG, Forschungsfinanzierung usw.) oder im Kleinen (Arbeitsbedingungen in der eigenen Hochschule, dem Institut, Arbeitsbereich o.ä.) — ist gemacht, wenn wir miteinander reden. Und damit meine ich nicht nur das abstrakte Benennen von Problemen, für das wir als Wissenschaftler_innen wunderbar ausgebildet sind. Ich meine auch, dass wir uns nicht davor scheuen, Persönliches zu teilen. Dass wir miteinander über Erfahrungen sprechen. Und ja, auch über die Resignation. Den Frust. Über das Scheitern. Denn dann sehen wir erst, dass vieles von dem, an dem wir da verzweifeln, auch andere trifft. Ein guter Anfang, um etwas zu verändern.
Vom Austausch zum Handeln ist es nur ein kleiner Schritt
Klar: Wenn wir uns beim Mittagessen in der Mensa gegenseitig von unseren Verzweiflungsmomenten im Wissenschaftssystem berichten, sind damit nicht auf magische Weise all deren Ursachen behoben. Dafür braucht es noch deutlich mehr. Defizitanalysen sind wichtig, aber um Veränderungen in Gang zu setzen, benötigen wir auch Visionen, Ziele und gemeinsame Pläne, wie wir näher dorthin gelangen können. Dabei ist es keineswegs so, dass wir uns immer in allen Punkten einig sein müssen, und wir müssen auch nicht gleich zu Beginn den Masterplan für die nächsten Jahre festlegen. Im Rahmen von #IchBinHanna haben wir von Anfang an ein zentrales Ziel klar benannt: Weg mit der aus dem Ruder gelaufenen Befristungspraxis, her mit mehr unbefristeten Stellen für Postdocs. Inzwischen sind zwei aussichtsreiche Mittel zum Erreichen dieses Ziels Teil der Debatte, die sich erst nach und nach herauskristallisiert haben: die Anschlusszusage nach einem angemessen kurzen Zeitraum (max. zwei Jahre) und die Befristungshöchstquote. Daran zeigt sich, wie produktiv die Diskussionen der letzten Jahre waren: Es lohnt sich, gemeinsam dranzubleiben und nach guten Lösungen zu suchen — auch, wenn es manchmal langatmig und ermüdend sein mag.
Statt in Anbetracht der vielen Probleme im deutschen Wissenschaftssystem das Handtuch zu werfen, können wir uns deshalb darauf besinnen, dass sich gemeinsam eine ganze Menge erreichen lässt — das zeigen die Veränderungen der letzten Jahre, auch, wenn sie uns einiges an Geduld abverlangt haben und noch abverlangen. Und für die Verantwortlichen im Wissenschaftssystem heißt all das: Die Zeiten, in denen über den Kopf der befristet Beschäftigten hinweg sie betreffende Entscheidungen getroffen werden konnten, sind vorbei. #IchBinHanna sitzt inzwischen mit am Tisch, hat einiges zu sagen und versteht es, sich Gehör zu verschaffen. Nun können Verantwortliche sich natürlich frei dazu entscheiden, nicht zuzuhören, und sich stattdessen untereinander versichern, dass das System so schlecht ja eigentlich gar nicht sei. Dann verpassen sie aber eine große Chance: Mit den Betroffenen prekärer Arbeitsbedingungen zu sprechen, ihre Erfahrungen ernstzunehmen und von ihnen zu lernen, um gemeinsam ein faires und zukunftsfähiges Wissenschaftssystem auf die Beine zu stellen — eines, mit dem sich auch in 5 Jahren noch Menschen dafür gewinnen lassen, in Deutschland Wissenschaft als Beruf zu ergreifen.