Das Internet schläft nie. Es kennt keine Pausen. Jederzeit und von beinahe überall, wo wir uns aufhalten, ist es für uns erreichbar und bietet uns Zugang zu allen erdenklichen Informationen, zu allerlei Apps und Tools — sowie zu zahlreichen Kommunikationskanälen. Dank des Internets sind wir in Forschung und Lehre vielfach nicht mehr auf die Öffnungszeiten von Bibliotheken angewiesen. Wir können (nicht zuletzt aufgrund unserer umfangreichen Pandemie-Videokonferenz-Erfahrungen) spielend leicht Vorträge von Menschen besuchen, die gerade tausende Kilometer von uns entfernt sind. Standortübergreifende Forschungskollaborationen lassen sich so gestalten, dass nicht mehr alle möglichen Leute ständig in der Weltgeschichte herumgondeln müssen, um einander für einen Austausch zu treffen. Wir sind kaum noch auf die Verlässlichkeit der Post angewiesen und auch erreichbar, wenn wir nicht neben unserem Diensttelefon arbeiten, sondern im Homeoffice oder auf unserer wöchentlichen Pendelstrecke im Zug. Toll, dieses Internet — und trotzdem würde ich es manchmal am Liebsten abschalten. Warum? Weil sich mit der Dauerverfügbarkeit des Internets und seinen zahlreichen Möglichkeiten zugleich die Erwartung der Dauererreichbarkeit, die völlige Aufweichung fester Zeiten der Ruhe und Entspannung ganz ohne Arbeit und die abstruse Forderung nach instantaner Bearbeitung aller erdenklichen Anliegen eingestellt haben.
Über das Ansinnen, im eigenen Mailpostfach die „inbox zero“ zu erreichen, also die Erledigung sämtlicher eingegangener E-Mails zu schaffen, kann ich nur verzweifelt lachen (und es ist so ein Lachen, das unversehens ins Weinen kippt, wie bei diesem Kind in dem Meme). Ein beachtlicher Teil meiner Arbeitstage geht für das Beantworten der angefallenen schriftlichen Korrespondenz und für Videocalls drauf — und zusätzlich umfasst die Dauerkommunikation auch noch den Austausch auf allerlei Social-Media-Plattformen (zum Beispiel werde ich sehr oft via LinkedIn kontaktiert, nicht nur zu #IchBinHanna, und auch die Plattform Bluesky verfügt neuerdings über die Funktion, private Nachrichten zu versenden). Das ist nicht nur deshalb ein Problem, weil ich an so manchem Arbeitstag schlicht zu sonst nichts mehr komme, wenn endlich die letzte Nachricht geschrieben und das letzte Videotelefonat geführt ist. Es ist darüber hinaus auch problematisch, weil wir der Flut der digitalen Kommunikation inzwischen kaum noch entkommen können — nicht einmal dann, wenn wir bewusst nicht in unser E-Mail-Postfach schauen. Ein Plädoyer dafür, die schier grenzenlose digitale Erreichbarkeit im Wissenschaftsbetrieb einzuhegen — mithilfe einer achtsameren digitalen Kommunikation, die uns allen einiges an Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zurückgeben könnte!
Alles E-Mails, oder was?!
Ich besitze ein T-Shirt aus der Hochphase der Pandemie, es ziert die Aufschrift „This meeting could have been an email“. Klar, es gibt so Sitzungen, da denkt man sich: Warum sitze ich eigentlich hier, hätten wir das nicht auch kurz und knapp per Mail klären können? Ich will nicht bestreiten, dass an diesem Gedanken nicht selten etwas dran ist. Allein: Würden auch aus den vielen Sitzungen noch weitere Mails, wer sollte die dann eigentlich noch alle beantworten, und vor allem: wann? Für mich kann ich sagen: Allein die studentischen Mails haben schon jetzt ein Ausmaß erreicht, dem kaum noch beizukommen ist. Studierende überschütten mich regelrecht mit Mails (was auch damit zu tun hat, dass ich als Prüfungsausschussvorsitzende die Adressatin ganz unterschiedlicher prüfungsbezogener Anliegen bin), und nicht wenige verbinden damit die Erwartungshaltung, dass ich diese Mails binnen 24 Stunden beantworte. Woher ich das weiß? Nun, ich erhalte regelmäßig Nachfragen mit diesem Timing. Sehr viele Studierende sind sehr geduldig mit mir, wofür ich dankbar bin, weil ich eben manches erst mit einigem Zeitverzug beantworte — umso ärgerlicher für die Geduldigen, wenn andere drängeln, gerne auch mit dem Verweis auf die besondere Dringlichkeit des eigenen Anliegens (die sich keineswegs immer bestreiten lässt, aber wir können eben nur eine Mail nach der anderen bearbeiten und nicht mehrere gleichzeitig). Unfair für andere Studierende (und die Lehrenden obendrein) ist auch die Strategie, mehrere Lehrende gleichzeitig mit demselben Anliegen zu kontaktieren, auch das regelmäßig mit einem Verweis auf dessen enorme Dringlichkeit — in der Folge bearbeiten mehrere von uns dasselbe Anliegen parallel: eine enorme Zeitverschwendung.
Einen Typus von studentischen E-Mails beantworte ich in der Regel gar nicht mehr: Gemeint sind solche Mails, in denen Dinge erfragt werden, die explizit im Seminarplan stehen (der in ILIAS praktisch jederzeit für alle abrufbar ist, auch das ist dieses Internet mit seiner Dauerverfügbarkeit). Es ist schlicht eine Frage der Prioritäten: Würde ich Fragen beantworten, die man sich ohne große Mühe selbst beantworten kann, dann fehlte mir die Zeit für die Beantwortung von Fragen, für die das nicht gilt.
Während die E-Mails meiner Studierenden äußerst zahlreich sind, ist übrigens die Zahl der Besuche in meiner Sprechstunde inzwischen recht überschaubar geworden. Es gibt Wochen, da sitze ich die ganze Sprechstunde hindurch allein im Büro und keine_r kommt vorbei. Immerhin kann ich diese Zeit zum E-Mails-Schreiben nutzen (hurra …) — aber vieles, was Studierende per Mail vorbringen, ließe sich eben doch am Besten in der Sprechstunde von Angesicht zu Angesicht klären, und zwar deutlich schneller und unkomplizierter für alle Beteiligten.
Du liest keine Mails – und ich erreich Dich doch!
Nun machen studentische Mails natürlich nur einen Teil der digitalen Korrespondenz aus, die tagtäglich bei uns allen anfällt. Auch unter Kolleg_innen kontaktieren wir uns regelmäßig auf digitalen Wegen — und sind dabei oft nicht minder ungeduldig. Ich bin durchaus froh und dankbar, wenn ich nach 1-2 Wochen einen Reminder bekomme, weil ich etwa noch nicht auf eine Vortragsanfrage geantwortet habe. Manchmal rutschen mir die einfach durch, weil ich mit so vielen anderen Dingen jongliere, was aber keineswegs daran liegt, dass diese Anfragen mir nicht wichtig sind, im Gegenteil — (vorgebliche) Dringlichkeit und Relevanz sind eben auch zwei Paar Schuhe. Aber auch im Kontext kollegialer Kommunikation würde ich mir wünschen, dass wir einander zumindest eine Woche zum Antworten einräumen, wenn möglich sogar zwei. Schließlich wissen wir zumeist nicht, mit welchen Dingen die Person am anderen Ende gerade jongliert, wie dringlich und relevant diese Dinge sind, und können zudem schlecht unterstellen, unser eigenes Anliegen steche alle anderen Anliegen in puncto Relevanz und Dringlichkeit automatisch aus.
Nun ließe sich sagen — und es ließe sich nicht nur sagen, es sagen mir auch vereinzelt immer mal Kolleg_innen: Man muss das eigene Mailpostfach ja gar nicht überall, zu allen möglichen Tageszeiten und an allen möglichen Orten checken — egal, ob es nach 22 Uhr ist, am Wochenende, im Urlaub oder in einer Woche, die man krankgeschrieben und ermattet im Bett verbringt. Das stimmt natürlich durchaus. Ich selbst habe schon vor Jahren die Mail-App von meinem Smartphone gelöscht, weil ich vorher wirklich überall E-Mails gecheckt und vor allem beantwortet habe. Checken kann ich sie jetzt immer noch, und zwar im Browser, und das tue ich auch, immer und immer wieder. Allerdings ist das Beantworten im Browser so umständlich, dass ich es wirklich nur noch im Notfall mache.
Aber selbst, wenn es mir gelänge, auch das notorische mehrfach tägliche Mails-Checken herunterzufahren oder an Tagen, die frei sein sollten, gar ganz zu unterlassen: Aus dem Schneider wäre ich damit nicht. Denn es gibt noch viele andere digitale Kommunikationskanäle, und auch die werden ausgiebig genutzt. Sehr viele Menschen haben inzwischen meine Handynummer — das bleibt nicht aus, wenn man jahrelang #IchBinHanna-Arbeit macht, viele auswärtige Vorträge hält, die es vorzubesprechen gilt, und auch sonst viele Kontakte knüpft, u.a. in den Sozialen Medien. Nun gibt es darunter Menschen, mit denen eine Kommunikation über Messenger eine einvernehmliche, fest etablierte Praxis ist. Aber ich stelle verstärkt fest, dass auch andere Menschen sich für berufliche Anliegen auf diese Kanäle verlegen, und zwar zu allen erdenklichen Tages- und Uhrzeiten.
Das Problem: Natürlich wissen wir alle, dass diese Kommunikationsdienste in aller Regel noch sehr viel unmittelbarer sind als E-Mails. Nachrichten landen oft sofort auf unseren Handy-Displays — auch dann, wenn wir unsere Handys zu diesem Zeitpunkt einzig privat nutzen wollen, weil wir gerade eigentlich mal nicht arbeiten (ja, auch das kommt vor — und angesichts um sich greifender Überstunden in der Wissenschaft ohnehin viel zu selten). Hier schwingt wahrscheinlich außerdem die Erwartungshaltung mit, dass meine Antwort per Messenger nicht viel weniger unmittelbar erfolgen wird als die Zustellung des Anliegens an mich über diesen Kanal.
Einander offline sein lassen — zumindest beruflich!
Wünschenswert wäre aus meiner Sicht, dass wir in der Wissenschaft zu einer sorgfältigeren Kommunikation mit unseren Mitmenschen finden, in deren Rahmen wir bewusster überlegen, ob das eigene Anliegen nun wirklich während der Krankheit unserer Kolleg_innen, in deren Urlaub, mitten in der Nacht oder am Wochenende via WhatsApp & Co. vorgetragen werden muss. Es ist natürlich immer eine Möglichkeit, auf Empfänger_innen-Seite diese Korrespondenz einfach auszublenden, stummzuschalten, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das geht dann aber zulasten wirklich drängender Anliegen, die wir unter Umständen sehr wohl zur Kenntnis nehmen wollen — sogar dann, wenn sie eigentlich zur Unzeit kommen.
Überhaupt wäre es gut, wenn wir uns lieber einmal mehr fragen würden, ob diese E-Mail, diese Messenger-Nachricht, diese Kontaktaufnahme via Social Media jetzt eigentlich wirklich so zwingend ist, wie es uns in diesem Moment erscheint — und wenn wir zugleich unsere Erwartungen herunterschrauben würden, was die Antwortdauer und -frequenz betrifft (und hier meine ich mich selber mit). Kristin Eichhorn hat gestern einen schönen Text zum Enttäuschen von Erwartungen veröffentlicht, dessen Pointe ist, dass in enttäuschten Erwartungen (man muss wohl sagen: wider Erwarten!) eine Menge Positives stecken kann. Die Erwartungen der anderen enttäuschen ist natürlich eine Möglichkeit, mit der digitalen Kommunikationsflut umzugehen, und ganz vermeiden lässt sich das sicher nicht (auch wenn es mir weiterhin schwerfällt). Nur es wäre uns allen geholfen, wenn wir auch am anderen Ende ansetzen und weniger Erwartungen aufbauen könnten — und wenn wir vor allem sensibler mit den digitalen Kapazitäten der anderen umgingen. Dazu gehört auch, Kommunikationskanäle bewusst so zu wählen und zu nutzen, dass wir über das Digitale nicht in private Räume und freie Zeiten eindringen, wenn das nicht explizit abgesprochen oder unbedingt nötig ist. Damit würde aus der digitalen Kommunikation statt eines Dauer-Stressfaktors wieder ein brauchbareres Hilfsmittel für unsere Arbeit in der Wissenschaft!