Nicht gemeckert ist genug gelobt — so lautet ein Sprichwort, von dem sich nach Lektüre der FAZ in der vergangenen Woche fragen ließe, ob es geisteswissenschaftlichen Gutachten zu Drittmittelanträgen als deren insgeheimes Motto vorangestellt werden müsste. Versammeln die Geisteswissenschaften unter ihrem Dach einen Haufen krittelnder Gutachter_innen, die systematisch Drittmittelerfolge innerhalb ihrer Disziplinen verhindern? Nach allem, was ich selber weiß und gehört habe, möchte ich darauf antworten: Gut möglich, dass dem so ist. Innerhalb der aktuell geltenden Schneller-höher-weiter-Exzellenz-Logik bedarf es eines äußerst emphatischen Loblieds seitens der Gutachter_innen, um einem beantragten Vorhaben überhaupt eine Chance auf Bewilligung zu verschaffen: Man ist als Gutachter_in sicherlich gut beraten, einen Antrag maximal abzufeiern, wenn man möchte, dass er durchkommt — und das scheint in den Geisteswissenschaften bislang nicht gang und gäbe zu sein.
Sofern dieser Eindruck nicht trügt, haben wir es hier mit einem ärgerlichen Sachverhalt zu tun, droht der kritische Modus der Begutachtung unter den gegebenen Bedingungen doch die Drittmittelerfolge der Geisteswissenschaften zu schmälern — und angesichts des allumfassenden Drittmittelfetischs damit auch ihr Standing insgesamt. Was aber folgt nun daraus? Sind die Geisteswissenschaften gut beraten, sich ihr „Ja, aber“ abzugewöhnen und zu einer wohlwollenderen Begutachtungspraxis überzugehen, wie Christiane Wiesenfeldt es in ihrem FAZ-Beitrag anregt? Das mag strategisch ein kluger Schachzug sein. Gleichwohl zielt die Diagnose, dass in den Geisteswissenschaften bezüglich der Vergabe von Drittmitteln anders agiert wird als in anderen Disziplinen, in den Kern eines übergeordneten Problems: Das Drittmittel(un)wesen ist in vielen Punkten auf die Naturwissenschaften zugeschnitten — die Geisteswissenschaften täten gut daran, sich hier mit ihren Eigenarten zu behaupten, statt in vorauseilendem Gehorsam den Maßstäben einer Antragstellung genügen zu wollen, die weder für sie gemacht noch sinnvoll auf sie anwendbar sind.
Nenn mir Deine Work Packages und ich sag Dir Deine Milestones
‚Work packages‘, ‚milestones‘ und ‚deliverables‘: Was nach neoliberalem Unternehmenssprech klingt, sind tatsächlich übliche Maßeinheiten, mit denen Antragsteller_innen sich regelmäßig herumschlagen müssen. Wer ein Drittmittelprojekt beantragt, insbesondere eines, dessen Zeitraum sich über mehrere Jahre erstreckt, ist gehalten, es in derartige handhabbare Häppchen und Ergebnisse zu teilen. In naturwissenschaftlichen Disziplinen mag eine solche Aufteilung allein schon deshalb sinnvoll erscheinen, weil erforderliche Laborkapazitäten und Gerätebedarfe ermittelt und festgehalten werden müssen. Auch scheint es für diese Disziplinen möglich zu sein, den Ablauf von Projekten in einigermaßen standardisierter Form zu antizipieren (jedenfalls legen entsprechende Beantragungspraktiken das nahe — ob es tatsächlich so gut machbar und auch sinnvoll ist, darüber mögen Vertreter_innen der jeweiligen Disziplinen urteilen, die dazu sehr viel qualifizierter sind als ich).
In den Geisteswissenschaften mutet das Raster aus ‚work packages‘, ‚milestones‘ und ‚deliverables‘ hingegen eher sonderbar an. Wer (wie ich) schon einmal versucht hat, geisteswissenschaftliche Vorhaben in ein solches Raster hineinzuquetschen, kommt schnell an Grenzen. Klar, ich kann mein Vorhaben in Schritte unterteilen, kann Aspekte davon differenzieren. Aber es kommt prozessual eben häufig zu einer Gleichzeitigkeit des inhaltlich Ungleichzeitigen: Damit sich ein möglichst kohärentes Ganzes ergibt, arbeiten wir zugleich an unterschiedlichen thematischen Baustellen, stimmen sie aufeinander ab, passen sie an, wo es nötig ist.
Ich will das anhand eines Beispiels aus meiner eigenen Arbeit etwas näher illustrieren. Will ich in der Philosophie einen Begriff definieren — nehmen wir den Begriff der Kopie, der im Zentrum meiner Dissertation stand —, so ist es für viele Vorhaben nicht zielführend, den Versuch zu unternehmen, den Begriff unabhängig vom Kontext zu bestimmen, um eine Art allgemeingültige Definition zu erhalten. Mein Anliegen in der Dissertation war es, eine Kopiedefinition zu entwickeln, die mir dabei hilft, eine ganz bestimmte Frage zu beantworten: Die Frage, welche Kopierhandlungen die moralischen Bestimmungsrechte von Urheber_innen verletzen. Daraus ergab sich etwa, dass ich Kopien außer Acht lassen konnte, die natürlich entstanden sind — hier gab es ja keine Akteur_innen, die sich einer Rechtsverletzung hätten schuldig machen können. Auch konnte ich auf die Betrachtung solcher Kopien verzichten, deren Vorlagen natürlichen Ursprungs waren, denn mit diesen Vorlagen verknüpfen sich mangels einer Hervorbringung durch Urheber_innen auch keine Rechte, die verletzt werden könnten. Hier zeigt sich bereits, dass sich meine Begriffsdefinition immer wieder an normativen Erwägungen messen lassen musste, ich sprang also zwischen verschiedenen Teilen der Arbeit hin und her. Hätte ich das Projekt vorher in ‚work packages‘ eingliedern müssen, hätte ich diese Pakete im Arbeitsprozess förmlich zerlegt und neu zusammengefügt: Aus den akkurat nebeneinandergestellten Pappkartons hätte ich Pappmaché gemacht, um schließlich daraus etwas Neues zu formen, das ich so weder hinsichtlich des Verlaufs seiner Entstehung noch hinsichtlich seiner Resultate im Detail hätte vorhersehen können (wäre es anders gewesen, hätte ich mir die ganze Arbeit schließlich auch gleich sparen können).
Ich will nicht sagen, dass den Geisteswissenschaften (zumindest jedenfalls meinem Fach) mitunter nicht etwas mehr Methodenbewusstsein gut zu Gesicht stünde. Aber mir scheint, dass die Durchführung geisteswissenschaftliche Methoden, deren Berechtigung sich im geisteswissenschaftlichen Arbeiten immer wieder aufs Neue erweist, sich der erzwungenen Kompartmentalisierung des Antragswesens oftmals entzieht. Das kann man irgendwie schlecht finden, aber warum sollte man? Solange nicht gezeigt wird, dass die Päckchenlogik der Antragstellung für sich genommen einen übergeordneten Wert hat, dem sich anderes unterzuordnen hat, sehe ich nicht, warum die Geisteswissenschaften sich ihr beugen sollten.
Das geilste Drittmittelprojekt der Welt, oder: Kommt bitte alle mal runter
Dasselbe gilt für die Sache mit dem Abfeiern. Ich habe hier und anderenorts schon gelegentlich kritisiert, dass mein eigenes Fach es mitunter etwas übertreibt mit dem Kritisieren, oder es jedenfalls in eine ungute Richtung treibt, wenn Konstruktives dabei zu kurz kommt und es primär ums Kaputtmachen (und Sich-dadurch-selber-Profilieren) geht. Aber mal ehrlich: Dass wir jetzt alle alles mega finden (zumindest auf dem Papier, auf dem die Gutachten geschrieben werden), kann doch auch nicht die Lösung sein! Damit wird natürlich in Teilen das gespiegelt, was auch in den Anträgen selbst passiert: Das dort beschriebene Vorhaben ist selbstverständlich überaus innovativ, grundstürzend originell, es füllt endlich ein längst überfälliges, drängendes Forschungsdesiderat (das seiner enormen Relevanz zum Trotz kurioserweise vor dem Verfassen des Antrags von der Fachcommunity gänzlich ignoriert wurde), und risikobehaftet ist es obendrein, denn Risiko ist sexy. Drittmittelanträge schreiben heißt Buzzword-Bingo spielen. Es ist ein Spiel, das man lernen kann (sogar per Workshop). Aber viel besser wäre es, wenn wir das alles endlich bleiben ließen.
Anträgen wie Gutachten täte es gut, mal etwas tiefer zu stapeln. Die Grenzen des Projekts klarer zu benennen. Realistischen Ambitionen gegenüber Größenwahn den Vorzug zu geben. Sich nicht zu gerieren, als sei man allwissend und hinsichtlich des Verlaufs und der Ergebnisse des beantragten Vorhabens mit erstaunlichen hellseherischen Fähigkeiten gesegnet (gilt für Antragstellende und Gutachtende gleichermaßen). Wenn das Antragswesen etwas von den Geisteswissenschaften lernen kann, dann das: Angemessene Formen der Kritik sind keine Sprengkörper, die Forschungsvorhaben komplett in Schutt und Asche legen. Sie sind wie Schleifpapier, das Rohlinge mit rauen Stellen, Ecken und Kanten in etwas verwandeln kann, an dem Kritiker_innen irgendwann nicht mehr hängen bleiben. Das heißt nicht, dass damit alles fertig wäre. Aber ein Forschungsvorhaben kann runder werden, wenn sich Kritik daran abarbeitet. Das setzt allerdings voraus, dass dabei alle mitspielen: Die Antragstellenden, die die Ecken, Kanten und unklaren Aspekte klar und offen als solche benennen. Die Gutachtenden, die den Antragstellenden daraus keinen Strick drehen und darauf konstruktiv kritisch reagieren, statt gleich alles abzuschießen. Und die Förderinstitutionen, die nicht in jedweder Kritik einen hinreichenden Grund erblicken, ein Vorhaben auszusortieren, sondern die ihre Auswahlverfahren im besten Sinne wissenschaftlich gestalten, indem sie Kritik wertschätzen und adäquat einzuordnen wissen. Damit wäre zumindest gewonnen, dass wir uns als Antragsteller_innen und Gutachter_innen nicht mehr wie Hochstapler_innen aufspielen müssen, die so tun, als sei das eigene bzw. begutachtete Projekt das allergeilste jemals ersonnene Forschungsprojekt unter der Sonne, denn, sorry, das ist einfach Blödsinn und aus wissenschaftlicher Sicht auch ganz schön unseriös.
Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass Drittmittel in möglichst großem Umfang in Grundfinanzierung umgewandelt werden sollten und dass das Drittmittelwesen einer fundamentalen Umgestaltung bedarf. Wenn wir das ganze Spiel schon weiterspielen, dann wäre es aber in jedem Fall zielführend, die Regeln einmal in der skizzierten Weise grundlegend zu überdenken. Damit Forschungsförderung zukünftig auf einer seriösen wissenschaftlichen Basis stattfindet, statt weiterhin die reißerischsten PR-Strategien zu belohnen.
Mit diesem Beitrag verabschiedet sich mein Newsletter für sechs Wochen in die sommerliche Urlaubspause. Wer nachlesen möchte, warum Urlaub in der Wissenschaft nicht nur für uns gut ist, sondern auch für andere, kann das in meinem Beitrag aus dem letzten Sommer tun. Ich wünsche allen Leser_innen erholsame Sommerwochen! Hier geht es weiter am 17. September 2024.