Besser jetzt als nie: Warum wir Freude nicht länger aufschieben sollten
„Wenn der Aufsatz fertig ist, dann mache ich am Wochenende endlich mal wieder frei. Wenn die Dissertation eingereicht/verteidigt/publiziert ist, dann fahre ich so richtig in den Urlaub, ohne Arbeit und mit echter Erholung, und brauche dabei ein paar von den zahlreichen Urlaubstagen auf, die sich inzwischen angesammelt haben. Wenn ich mich nicht mehr von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangle, wenn (also: falls!) ich irgendwann eine unbefristete Stelle habe, dann komme ich endlich an einem Ort an, statt immer auf dem Sprung zu sein, kann mir dort etwas aufbauen, das kein erzwungenes Ablaufdatum mehr hat, dann kümmere ich mich wieder mehr um mich und meine Lieben, dann erfülle ich mir endlich meinen lang gehegten Kinderwunsch, dann rette ich meine Beziehung, die unter Dauerstress und Existenzsorgen leidet.“ Arbeit in der Wissenschaft provoziert ein Leben, das in Konditionalsätze gefasst ist: Viele, die in der Wissenschaft tätig sind, kennen solche und ähnliche Sätze allzu gut — sie sagen sie immer wieder zu sich selbst und zu anderen. Ständig schieben wir etwas auf, in der Hoffnung, wenn nur diese eine Bedingung erfüllt sei, werde alles anders, wir könnten dann nach langen Durststrecken wieder Pausen, Wochenende und Urlaub machen, schöne Dinge tun, zurückgestellte Lebensentscheidungen treffen, erleichtert durchatmen. Die Wahrheit aber ist: Unser Leben findet jetzt statt. Viele der Bedingungen, die in den Sätzen festgehalten sind (etwa fertig gestellte Aufsätze, eingereichte Dissertationen usw.), werden bei ihrem Eintreten regelmäßig nicht die Konsequenzen mit sich bringen, die wir uns erhofft hatten. Andere Bedingungen (allen voran der Erhalt einer unbefristeten Stelle in der Wissenschaft) werden sich in unserem Leben oft erst sehr spät, für viele von uns sogar nie erfüllen. Während wir also noch darauf warten, dass wir die selbst gesteckten oder fremdbestimmten Etappenziele unserer akademischen ‚Karriere‘ erreichen, um dann endlich das zu tun, das wir schon lange machen wollten, zieht unser Leben an uns vorbei. Damit muss Schluss sein: Dies ist ein Plädoyer dafür, das „Jetzt“ nicht weiter gegen ein „Vielleicht später, wahrscheinlich nie“ einzutauschen.
Erreichte Ziele feiern — auch die kleinen
Eigentlich war ich dazu übergegangen, am Wochenende nicht mehr zu arbeiten. Seit die #IchBinHanna-Arbeit zu meiner wissenschaftlichen Arbeit hinzugetreten ist, ist das mit den arbeitsfreien Wochenenden (und auch der Vermeidung von Nachtschichten) allerdings deutlich schwieriger geworden. So saß ich also am letzten Samstag bis zum späten Nachmittag am Schreibtisch, immerhin mit dem Resultat, dass der Aufsatz, der der Anlass für die Wochenend-Arbeit war, am Ende fertig wurde. Tagelang hatte ich mich innerlich angespornt, noch ein bisschen durchzuhalten, ich hatte mich aller Müdigkeit zum Trotz inmitten der Vorbereitung für einen Konferenzvortrag, der auch noch anstand, getreten, an diesem Aufsatz weiterzumachen. Wäre ich erst einmal damit fertig, so dachte ich mir, dann käme die große Erleichterung, ich würde mich den ganzen (zugegebenermaßen kümmerlichen) Rest des Wochenendes lang gebührlich ausruhen, mich einfach freuen, ein paar schöne Dinge unternehmen, kurz: für mich feiern, dass diese Etappe nun auch geschafft ist. Wer selber in der Wissenschaft tätig ist, ahnt es vielleicht schon: Nichts davon ist am Ende eingetreten. Als ich fertig war, war ich genau das, im Wortsinne: Ich war fertig. Ausgelaugt, erschöpft, und gefühlt habe ich auf der positiven Skala möglicher Emotionen: nichts.
Nun war dieser Aufsatz natürlich nicht der erste Text, den ich fertig gestellt habe. Es gab noch viele andere, auch deutlich längere, welche, mit denen ich ungleich mehr kämpfen musste. Ich habe eine Dissertation verfasst, verteidigt, überarbeitet und publiziert, allerlei anderes veröffentlicht, ich habe Anträge geschrieben und eingereicht, von denen einige erfolgreich waren usw. Alles Puzzleteile, die ich hübsch aufbereitet in meinem Lebenslauf und diversen Verzeichnissen sammle — in der Hoffnung, Wissenschaft als Beruf weitermachen zu können, wenn ich nur genügend von diesen Puzzleteilen zusammentrage. Wobei einigermaßen unklar bleibt, was „genügend“ hier eigentlich heißt, weshalb ich nach dem Ergänzen jedes zusätzlichen Puzzleteils auch weiterhin fürchten muss, dass es immer noch nicht reicht. Ich bin deshalb zu einem Umgang mit Etappenerfolgen übergegangen, der sich wohl am Besten in die Formel „abhaken und weitermachen“ bringen lässt. Kaum ist etwas fertig, gilt der nächste Gedanke sofort dem, was auf meiner übervollen To-Do-Liste als Nächstes dran ist.
Aufgeschoben ist eben doch oft aufgehoben
Der Witz ist aber, dass die schöne Idee von dem Puzzle, das nur möglichst umfangreich zu vervollständigen ist, damit endlich das allergrößte aller „Wenns“ (der Erhalt einer unbefristeten Beschäftigung in der Wissenschaft) das allergrößte aller „Danns“ herbeiführt (das Ende von Zukunftsängsten und Existenzsorgen und damit ein besseres Leben unter ganz neuen Vorzeichen), so aller Voraussicht nach nicht aufgehen wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass all das überhaupt einmal eintreten wird, ist jedenfalls äußerst gering, denn die Chancen auf eine unbefristete Beschäftigung in der deutschen Wissenschaft sind nach wie vor miserabel. Und selbst wenn es doch dazu käme, dass ich meine wissenschaftliche Arbeit in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis weiterführen kann, so könnte es noch Jahre dauern, bis es soweit ist. Ich blicke zurück auf über ein Jahrzehnt, in dem ich ständig schöne, erfreuliche, im Privaten wichtige Dinge auf später verschoben habe. Und ich habe in dieser Zeit — teils schmerzlich — lernen müssen, dass sich manches davon später gar nicht nachholen lässt.
Wir sollten deshalb inmitten der ganzen notorischen Aufschieberei von Freude und Erfreulichem einmal innehalten und uns zum Beispiel dies klar machen: Nicht jede zwischenmenschliche Beziehung übersteht es, wenn gemeinsame Zeit immer wieder aufgeschoben wird, weil erst noch dieser Aufsatz, jener Antrag, außerdem noch ein Vortrag, die Dissertation, die Habil oder sonst etwas fertig werden muss. Es verlangt der eigenen Gesundheit viel ab, ständig über Grenzen zu gehen, Erholungszeiten zu streichen, um stattdessen das nächste Vorhaben zum Abschluss zu bringen usw. Was wir uns (und anderen) damit antun, ist später nicht immer ohne Weiteres zu reparieren. Und seien wir ehrlich: Auch die ganzen kleinen aufgeschobenen Freuden über Geschafftes werden wir wahrscheinlich nie nachholen. Ich kenne Menschen, die gehofft hatten, nach dem Erhalt der Professur sei plötzlich alles gut, und die dann überhaupt erst verstehen, in welchem Ausmaß sie Opfer gebracht haben für die sogenannte wissenschaftliche Karriere. Und dass vieles von dem, was sie aufgeschoben haben, inzwischen leider nicht mehr nachgeholt werden kann.
Unser Leben findet jetzt statt. In diesem Moment. Wir können es so führen, dass wir ständig versuchen, alles auf eine unbestimmte Zukunft der unbefristeten Beschäftigung in der Wissenschaft auszurichten, die wahrscheinlich ohnehin nicht eintritt, und wenn, dann erst in einigen Jahren. Wollen wir die Gegenwart wirklich so gestalten, dass sie voller Entbehrungen ist, dass wir uns deutlich mehr versagen als uns zu gönnen, und alles das in der vagen Hoffnung, dass sich das am Ende irgendwie auszahlt — einer Hoffnung, die höchstwahrscheinlich enttäuscht werden wird? Oder wollen wir uns jetzt eine gute Zeit machen, in dem Wissen, dass eine schlechte Zeit im Jetzt sich nicht einfach automatisch in eine gute Zukunft verwandeln wird? Ich denke, wir sollten uns für letzteres entscheiden. Das heißt: Uns selbst dafür feiern, wenn Dinge fertig werden — und für deren Fertigstellung zugleich nicht ständig Schönes und Wichtiges zurückstellen. Das Leben unter Vorbehalt, zu dem uns die Arbeit in der Wissenschaft sowieso allzu oft zwingt, hat auch so schon genügend Schattenseiten. Höchste Zeit, es mit mehr hellen Dingen zu füllen, die uns und anderen eine Freude machen!
Schluss mit dem Aufschieben guter Dinge!
Das ist nicht nur gut für uns als Individuen — und die Menschen, die uns umgeben: Uns und anderen können wir viel Freude bereiten, wenn wir aus dem „Später“ öfter mal ein „Jetzt“ machen. Und nicht nur das: Hören wir mit dem Aufschieben schöner Dinge auf, dann kommt das auch der wissenschaftlichen Gemeinschaft insgesamt zugute — und all jenen, die erwägen, Teil dieser Gemeinschaft zu werden. Denn wenn wir nicht mehr ununterbrochen der sprichwörtlichen Karotte hinterherrennen und dafür auf dem Weg so viele gute Dinge links liegen lassen, erzeugt das gleichzeitig Druck auf die Verantwortlichen im Wissenschaftssystem, auch dem Aufschieben einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen endlich ein Ende zu machen. Dass diese Bedingungen jahrzehntelang so schlecht waren und es immer noch sind, liegt nicht zuletzt daran, dass so viele von uns Wissenschaftler_innen teils über Jahrzehnte allen miserablen Bedingungen zum Trotz alles gegeben (und eben auch vieles aufgegeben) haben, um das Ziel der unbefristeten Beschäftigung (und damit ein Leben, wie es die meisten Menschen in anderen Branchen völlig selbstverständlich ab einem deutlich früheren Lebensalter führen) irgendwie doch noch zu erreichen. Es wird zunehmend deutlich, dass immer mehr von uns dazu in dieser Form nicht weiter bereit sind. Das sollten wir noch stärker in einen Kulturwandel hinsichtlich der Arbeitsweisen in der Wissenschaft überführen: Statt schöne Dinge aufzuschieben und damit dazu beizutragen, dass eine Priorisierung der Wissenschaft gegenüber anderen Lebensbereichen weiterhin Standard bleibt und erwartet wird, sollten wir diesen Dingen in unserem Leben einen höheren Stellenwert einräumen. Je mehr von uns das tun, desto mehr wird das Wissenschaftssystem gezwungen, dafür Raum zu schaffen. Was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, ergibt dann plötzlich Sinn: Indem wir unsere Gegenwart nicht weiter einer Zukunft opfern, die unter den aktuellen Vorzeichen höchstwahrscheinlich niemals eintreten wird, machen wir das Eintreten dieser Zukunft umso wahrscheinlicher — und verbessern dabei unsere Gegenwart gleich mit.