Dabei sein ist alles!? Vom (Nicht-)Dazugehören in der Wissenschaft
Dazugehören: ein menschliches Grundbedürfnis, nicht nur in der Wissenschaft. Studien zeigen, dass das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, massive Auswirkungen auf die menschliche Psyche hat — wer sich durch eine Gruppe ausgegrenzt fühlt, erlebt sogar etwas, das physischem Schmerz vergleichbar ist. Letzte Woche habe ich bereits darüber geschrieben, wie schwer es ist, in der Wissenschaft Lob und Wertschätzung zu erhalten. Die Aufnahme in Gruppen gestaltet sich nicht minder schwierig (was durchaus zusammenhängt). Damit meine ich nicht die rein formal festgelegte Zugehörigkeit zu einem Fachbereich, einem Institut, zu einer Forschungs- oder Arbeitsgruppe — ich meine die informelle Zugehörigkeit, die u.a. die Akzeptanz anderer Gruppenmitglieder und vor allem die der Vorgesetzten voraussetzt. Um dieses „Du bist eine_r von uns“ zu etablieren, gibt es in der Wissenschaft verschiedene Mechanismen. Drei davon möchte ich mir für den heutigen Newsletter genauer ansehen: Aufmerksamkeit, Nähe und die Anpassung an vorherrschende Standards. Weil diejenigen, die Teil der Gruppe sein wollen (oder es im Interesse des Fortkommens in der Wissenschaft sein müssen), auf letzteren den größten Einfluss zu haben scheinen, beginne ich damit.
Sind sie zu hart, bist Du zu schwach: Standards für Arbeit in der Wissenschaft
Teil einer wissenschaftlichen Community sein: Viele angehende Wissenschaftler_innen werden schon früh an die unerbittlichen Standards herangeführt, die dafür nach Auffassung einiger etablierter Wissenschaftler_innen weiterhin Geltung haben (müssen). Ich erinnere mich an zahlreiche vermeintliche Heldengeschichten (Gendern nicht nötig) von Profs, die bereits während meines Studiums und meiner Zeit als studentische Beschäftigte von durchgearbeiteten Nächten („der Vortrag musste fertig werden!“) sowie arbeitsreichen Wochenenden und Urlauben erzählt haben. Als Hilfskraft saß ich schüchtern am Restauranttisch nach Abendvorträgen, aber ich war auch stolz, dabei sein zu dürfen, und bekam dadurch gleich schon mit, dass Abendtermine mit anschließenden langwierigen Abendessen die Regel sind. Damals fand ich das so aufregend (und anstrengend), dass ich anschließend, wenn ich einigermaßen spät endlich zuhause war, kaum einschlafen konnte. Wissenschaft schien so wichtig, dass sie offenbar schwerer wog als alle geplanten Pausen und vorab gefassten Zeitpläne — ständig wurde auf wissenschaftlichen Veranstaltungen überzogen, bis die Pausenslots winzig oder ganz verschwunden waren. Man hatte dabei nonstop auf Zack zu sein, mit voller Konzentration und geistreichen Kommentaren, und das bei stundenlangem Sitzen auf unbequemen Stühlen, gerne in Räumen, die nach endlosen Diskussionen zunehmend an Sauerstoffarmut litten (Wissenschaft ist wichtiger als Fenster öffnen!).
Ich habe das selten jemandem erzählt, aber noch während meines Studiums bin ich einmal von einer Tagung früher abgereist, weil ich so erschöpft war davon, bei jedem Mittag- und Abendessen, in jeder Kaffeepause auf Englisch über komplexe Fragen der Philosophie zu diskutieren, die ich kaum verstand. Zu Beginn des Studiums hatte ich noch Hobbies, habe in einer Band gesungen. Das habe ich schweren Herzens aufgegeben, als ich merkte, dass Wissenschaft von mir volles Commitment verlangt: Entweder man macht 24/7 Wissenschaft oder ist jedenfalls imstande und willens, das zu tun, ja, man geht darin sogar auf, man liebt es genau so, oder man ist hier fehl am Platz.
Wobei: Ist es wirklich die Wissenschaft, die das verlangt? Oder nicht eher einige derjenigen, die es in der Wissenschaft „geschafft“ haben? Zum Glück weiß ich inzwischen, dass Wissenschaft auch anders geht, weil ich Role Models kennengelernt habe, die offen kommunizieren, dass sie durchaus ein Leben jenseits der Wissenschaft haben, in dem ihrem Beruf nicht ständig die uneingeschränkte Priorität eingeräumt wird. Das zu verstehen hat aber viele Jahre gedauert. Ich begegne heute immer noch regelmäßig etablierten Leuten, für die das Prahlen mit der eigenen Überarbeitung zum guten Ton gehört (auch, wenn ich dabei innerlich inzwischen ein Gähnen kaum unterdrücken kann). Und obwohl ich selbst jetzt weiß, dass Liebe zur Wissenschaft keine Selbstaufgabe voraussetzt, fällt es mir weiterhin nicht immer leicht, mich abzugrenzen. Wegen des Imposter-Syndroms, das ich nicht gänzlich hinter mir lassen kann — aber auch, weil ich auf mein Arbeitspensum zumindest einen Einfluss habe, und so immerhin ein Stück weit darauf, ob ich nun nach geltenden Standards dazugehöre oder nicht (wobei ich inzwischen lieber aufs Dazugehören verzichte als auf Pausen!).
Verdiente Aufmerksamkeit?
Auf andere Mechanismen der Gruppenzugehörigkeit scheint unser Einfluss geringer. Das gilt etwa für die Aufmerksamkeit anderer, die ich nicht verlässlich auf mich lenken kann: Ob jemand zur In-Group (in der) Wissenschaft gehört oder nicht, entscheidet sich eben auch daran, ob andere mir ihre Aufmerksamkeit schenken — oder es bleiben lassen. Das ist erst einmal unabhängig davon, ob es sich um positive oder negative Aufmerksamkeit handelt. Klar, besonders für die positive Variante — anerkennende Kommentare, Job-Angebote (angefangen bei den ersten angebotenen HiWi-Stunden), Einladungen (zu den Kolloquien einzelner Profs, später zu Tagungen usw.) — gilt: Das sind Signale, Teil der Community zu sein oder jedenfalls (vermeintlich) „das Zeug dazu zu haben“, es zu werden. Allerdings wird es Menschen wie mir, die mit vielen Privilegien groß geworden sind (darunter einem akademischen Elternhaus), sehr viel leichter gemacht, diese Art der Aufmerksamkeit zu erhalten. Wer die Konventionen (ansatzweise) kennt, kann sich besser nach ihnen richten. Am Ende ist das aber nichts als ein Konformitätsdruck, der Vielfalt in der Wissenschaft systematisch ausbremst.
Man könnte das zwar annehmen, aber auch negatives Feedback bedeutet nicht zwingend, dass man aus der Gruppe herausfällt. Vernichtende Kritik der eigenen Arbeit, unsachliche Kommentare, ja, sogar Angeschrien-Werden wecken natürlich die berechtigte Sorge, ausgeschlossen zu werden — und sind im Übrigen absolut daneben und weder einer zeitgemäßen Führungskultur würdig noch eines angemessenen Umgangs untereinander. Allerdings sind sie immer noch: Aufmerksamkeit (wenn auch fraglos in toxischer Form). Der tatsächliche Ausschluss aus der Gruppe kann durch ein sehr viel mächtigeres Mittel erfolgen: indem Aufmerksamkeit jedweder Art entzogen oder gar nicht erst gewährt wird. Kaum etwas vermag Menschen so effizient auszuschließen wie sie zu ignorieren.
Ein Problem in der Wissenschaft, von dem ich durchaus häufiger mitbekommen habe, ist, dass das gezielte Entziehen von Aufmerksamkeit durchaus als Waffe eingesetzt werden kann, um Macht auszuüben oder zu missbrauchen. Das ist für Betroffene furchtbar, zumal, wenn das Verteilen und Vorenthalten von Aufmerksamkeit jeweils aus nicht nachvollziehbaren Motiven heraus, gleichsam völlig erratisch, erfolgt: Gerade noch etabliertes In-Group-Mitglied, wird jemand aus heiterem Himmel fallengelassen, auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer. Das erzeugt aufseiten der Betroffenen verständlicherweise enorme Verunsicherung und Angst — nicht nur, weil es schmerzhaft ist, nicht mehr zur Gruppe zu gehören, sondern auch, weil damit die eigene berufliche Existenz ins Wanken gerät, ohne dass ersichtlich wird, wieso eigentlich.
Nähe macht erpressbar
Die Etablierung von Gruppenzugehörigkeit erfolgt jedoch nicht nur durch Kontrolle der Einhaltung von (mitunter toxischen) Standards und das Zuteilen von Aufmerksamkeit. Nähe spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Wer Teil der Gruppe ist, findet sich nicht selten in einem Kreis wieder, in dem Berufliches und Privates zunehmend verschwimmen. Angefangen beim Angebot, einander zu duzen (als Studentin fühlte ich mich regelrecht geehrt, ja, förmlich ausgezeichnet dadurch, dass ich Teile des Mittelbaus duzte, später dann als Promovierende durfte ich die ersten Profs duzen usw.), über das Teilen von mehr oder minder intimen privaten Informationen — bis hin zu Situationen, in denen man plötzlich von Vorgesetzten zu privaten Anliegen ins Vertrauen gezogen wird.
(Ich werde hier eine Thematik außen vor lassen: Ich meine die unangemessenen Anbahnungsversuche mit sexuellen Absichten gegenüber abhängig Beschäftigten, für die Vorgesetzte diese Formen der Nähe vermutlich oftmals ebenfalls in Anschlag bringen. Dieser Themenkomplex verdient einen eigenen Text, ach was: viele Texte, denn #MeToo in der Wissenschaft ist weiterhin ein riesiges Problem.)
Nun ist es zwar wichtig, in einer angenehmen Atmosphäre zusammenzuarbeiten, es spricht also nichts dagegen, einander zu duzen, beim Mittagessen auch über anderes zu reden als fachliche Dinge (oben schrieb ich nicht ohne Grund, dass es saumäßig anstrengt, wenn Wissenschaft ständig das einzige Thema ist) usw. Das wird in vielen Fällen unproblematisch sein. Aber mir sind durchaus andere bekannt und die Grenzen sind fließend. Denn auch Chef_innen, die sich als Freund_innen gerieren, sitzen im Konfliktfall am längeren Hebel. Dann droht die mangelnde professionelle Distanz zum Problem zu werden: Dienstaufgaben können als Freundschaftsdienst gerahmt werden, auch, wenn sie das angemessene Maß weit überschreiten („wir tun eben Dinge füreinander!“). Unterstützung im Rahmen des Betreuungs- und Dienstverhältnisses und das eingeforderte Engagement der abhängig Beschäftigten können gegeneinander aufgerechnet werden („ich habe so viel für Dich getan, da kannst Du jetzt auch mal das für mich machen!“). Wenn abhängig Beschäftigte auf der Einhaltung arbeitsrechtlicher Standards bestehen (z.B. bzgl. Arbeitszeiten), kann ihnen das fälschlich als Illoyalität ausgelegt werden, die das (vermeintlich) freundschaftliche Verhältnis bedroht — und damit das Dienstverhältnis gleich mit.
The More, The Merrier: Offene Arme statt Ausschlussmechanismen!
Was aber können wir tun, um zu verhindern, dass Wissenschaft auch zukünftig durch elitäre Gruppenbildungen geprägt wird, die andere (ganz besonders weniger Privilegierte) systematisch ausschließen und Gruppenmitglieder unter Druck setzen, sich an teils problematische Standards anzupassen sowie möglichst konform zu den Interessen ihrer Vorgesetzten zu verhalten? Wie so vieles in der Wissenschaft lässt sich auch dieses Problem mit kollektiver Handlungsfähigkeit und Solidarität angehen. Natürlich kann die eine, einzelne Person, die hier nicht mitspielt, das Rad wohl kaum herumreißen. Aber was, wenn in einer Runde, in der wieder jemand seine Kurz-vorm-Burnout-Heldengeschichten erzählt, plötzlich mehrere (am besten zunächst die, die am wenigsten zu verlieren haben bzw. in der Wissenschaft am weitesten gekommen sind) deutlich machen, dass Wissenschaft als Beruf mitnichten voraussetzt, sich selbst bis zur Erschöpfung zu treten und beständig mit einem zu hohen Arbeitspensum herumzuquälen? Wenn wir einander (positive!) Aufmerksamkeit und echtes Interesse schenken — und zwar nicht bloß denen, die bereits Teil der Gruppe sind? Wenn wir vernichtenden Kommentaren bewusst ermutigende, konstruktive Rückmeldungen entgegensetzen? Wenn wir gegenüber der Vereinnahmung durch Vorgesetzte für deren private Anliegen bewusst Grenzen setzen und es so mehr und mehr normalisieren, in asymmetrischen Arbeitsverhältnissen professionelle Distanz zu wahren, sodass es für emotionale Erpressung auf persönlich-privater Ebene als Mittel des Machtmissbrauchs deutlich höhere Hürden gibt?
Klar: Das menschliche Grundbedürfnis, dazuzugehören, lässt sich nicht abschalten. Aber: Wir sind der Aufnahme in Gruppen nicht hilflos ausgeliefert. Denn: Wir können unsere eigenen Gruppen gründen, mit unseren eigenen Regeln. — Und das soll klappen? Ja. Versprochen. Woher ich das weiß? Ich sehe es jeden Tag: an fast 4 Jahren #IchBinHanna, an einer Community, die sich gegenseitig bestärkt, ermutigt, die Freude und Leid miteinander teilt, die zugewandt und offen miteinander umgeht. Wenn Du noch kein Teil davon bist, bist Du herzlich eingeladen: Wir freuen uns auf Dich!