Das einzig Beständige sind die Ortswechsel
Warum Arbeit in der Wissenschaft eine verlässliche Homebase braucht
Hier ist er also, der neue Ort für mein Schreiben über Arbeit in der Wissenschaft. Schwer sollte mir dieser Neuanfang eigentlich nicht fallen: Mit Ortswechseln bin ich vertraut, denn sie gehören zum wissenschaftlichen Werdegang in Deutschland wie die Kisten zum Umzug. Durch zahlreiche, oftmals kurz befristete Verträge kommen Wissenschaftler_innen in Deutschland ohne unbefristete Stelle (und das sind die meisten – von den nichtprofessoralen Beschäftigten unter 45 sind 92% befristet, s. BuWiN 2021, S. 29) zwangsläufig viel herum. Diese Mobilität wird gerne als förderlich für die wissenschaftliche Arbeit romantisiert: Wer an einem neuen Ort ist und dort Neues kennenlernt, so heißt es immer mal wieder, komme dadurch auch wissenschaftlich voran. Mitunter wird sogar unterstellt, Wissenschaftler_innen wollten es gar nicht anders – so ließ der Präsident der Freien Universität Berlin, Günter Ziegler, im August 2021 im Interview mit dem Tagesspiegel verlauten, Mobilität sei von Postdocs gewünscht: „[D]as sind nicht Leute, die an einer Uni hängenbleiben, die möchten Erfahrungen sammeln, sich noch weiterentwickeln“. Das war damals unser Anlass für den Hashtag #WasPostdocsWollen, der zeigt, dass Postdocs dauernde Umzüge, Pendelei sowie ein Arbeits- und Privatleben unter Vorbehalt ganz schön satthaben.

Ich selbst habe für meine nunmehr elfjährige Tätigkeit in der deutschen Wissenschaft vergleichsweise wenige Ortswechsel vollzogen: Promotion in Münster und zwischendurch in Bielefeld (plus eine kurze Episode in Eindhoven während meiner Arbeitslosigkeit), dann fünf Jahre Postdoc-Zeit in Düsseldorf und jetzt eine Juniorprofessur in Stuttgart – ohne Tenure Track, das heißt nach max. sechs Jahren ist auch hier wieder Schluss.
Leben und Arbeiten unter Vorbehalt: Ein (zu) hoher Preis
Haben die Ortswechsel meine wissenschaftliche Arbeit besser gemacht? Ich glaube es kaum. Denn neben den finanziellen Kosten, die es mit sich bringt, umzuziehen, Pendelwohnungen einzurichten und zu unterhalten sowie zahlreiche Zugtickets zu bezahlen, hat es auch persönliche Kosten, immer wieder von vorne anfangen zu müssen. Wir bauen uns stets aufs Neue ein Leben auf, mit beruflichem Netzwerk und Freundschaften, mit der Einarbeitung in ein neues Arbeitsumfeld und dem Zurechtfinden in einer uns fremden Stadt – und sobald wir das geschafft haben, uns dort vielleicht gar zuhause fühlen, kommt jedes Mal die Befristung und walzt alles nieder. Klar ist auch: Die finanziellen und persönlichen Kosten sind je nach persönlichen Voraussetzungen für einige noch schwerer zu (er)tragen als für andere. So wird das nichts mit Diversität und gerechten Zugangschancen in der Wissenschaft!
Und jedem Anfang wohnt ein Zaudern inne
Je häufiger wir das Szenario des Ortswechsels mit eingepreistem Ablaufdatum durchspielen, desto ermüdender wird es. Irgendwann stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie sehr kann ich mich noch auf den neuen Ort einlassen, wenn ich weiß, dass er erneut nur eine Durchgangsstation ist? Wie viel kann und will ich investieren, um mir in Forschung, Lehre und Wissenschaftskommunikation etwas aufzubauen, wenn ich weiß, dass sich von inneruniversitären Netzwerken, lokaler Gremienarbeit, dem Durchdringen von ortsspezifischen Modulhandbüchern und Prüfungsordnungen, neu konzipierten Infrastrukturen in der Lehre und Kontakten in die Stadtöffentlichkeit kaum etwas an andere Orte mitnehmen lässt? Und: Wie sehr wird es schmerzen, auch dieses Mal wieder die Menschen zurückzulassen – darunter sowohl Kolleg_innen als auch Freund_innen, mitunter beides in Personalunion –, die ich in mein Herz geschlossen habe? Ich warte bis heute vergeblich darauf, dass ich mich an all das gewöhne. Gezwungenermaßen Abschied nehmen tut weh und das nutzt sich nicht ab, im Gegenteil: es zermürbt und ermüdet zunehmend.
Gemeinschaft braucht Stabilität – beruflich wie privat
Wissenschaftler_innen sind keine Inseln. Sie können es schon allein fachlich nicht sein, denn Wissenschaft ist und bleibt im Kern ein Gemeinschaftsprojekt, so kompetitiv ihre Rahmenbedingungen auch ausgestaltet sein mögen. (Warum es keine gute Idee ist, Konkurrenz zu einem Grundprinzip wissenschaftlicher Arbeit zu machen, ist ein Thema für eine weitere Ausgabe dieses Newsletters.) Aber Wissenschaftler_innen haben auch ein Privatleben, und das lässt sich je nach persönlicher Situation unterschiedlich gut an einen anderen Ort verpflanzen. Dass wir dauernd unterwegs sind, belastet nicht nur uns, es belastet auch unsere Familien, Partner_innen, Freund_innen, Kinder. Kinder? Ich habe keine – nicht zuletzt, weil ich nicht weiß, wie das gehen soll, wenn ich dauernd unterwegs bin und mein Arbeits- und Lebensmittelpunkt ständig zur Disposition steht. Meine Hochachtung gilt allen, die das irgendwie hinbekommen, denn das ganze System ist und bleibt durch und durch familienfeindlich.
Wissenschaftlerinnen: Ohne Kinder? Ohne Professur? Oder beides?
Ich bin 37 und ich weiß: Drei Viertel der männlichen Professoren sind Eltern, unter den Professorinnen hat lediglich die Hälfte Kinder – was auch daran liegen dürfte, dass es Männern offenbar sehr viel häufiger gelingt als Frauen, die Familiengründung nachzuholen, wenn sie endlich eine Professur haben (vgl. BuWiN 2021, S. 163). Perspektivlose Professuren wie meine, mit der nach sechs Jahren Schluss ist, eignen sich allerdings nicht zum Nachholen. Falls ich je eine Professur auf Lebenszeit ergattern sollte, ist es vielleicht schon zu spät. Die Statistik verrät uns nicht, wie viele Frauen zugunsten der Arbeit in der Wissenschaft ihren Kinderwunsch opfern und am Ende leer ausgehen, weil es einfach viel zu wenig Professuren und Dauerstellen im deutschen System gibt, die Wissenschaftler_innen nach Erreichen der zwölfjährigen Höchstbefristungsdauer des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes bekleiden können.
Erst verlässliche Rahmenbedingungen ermöglichen gute Wissenschaft
Aber nicht nur, weil „Familienfreundlichkeit“ endlich mehr als ein fancy Label ohne echte Substanz sein muss und Arbeit in der Wissenschaft selbstverständlich mit einem Privatleben vereinbar sein sollte, braucht es feste Arbeitsorte in der Wissenschaft. Wer wissenschaftlich arbeitet, muss in der Lage sein, gänzlich neues Terrain zu betreten. Originelle Fragestellungen und Thesen finden sich eben nicht da, wo wir uns bereits gut auskennen – sie zu suchen erfordert den Aufbruch zu neuen Orten. Wer vertraute Orte gedanklich verlassen will, braucht allerdings zumindest eine räumliche Konstante, um nicht gänzlich in der Luft zu hängen und sich statt mit Wissenschaft dauernd mit Umzügen, Wohnungssuche, Neuorientierung und Existenzängsten auseinandersetzen zu müssen. Auch deshalb wird es höchste Zeit für verlässliche Perspektiven in der Wissenschaft: Wissenschaftler_innen, die nicht alle paar Jahre zum Neuanfang gezwungen werden, haben auch den Kopf frei, um in ihrer wissenschaftlichen Arbeit vertraute Pfade entschlossen zu verlassen. Der Mobilitätszwang schadet guter Wissenschaft – was sie braucht, ist eine verlässliche Homebase.
Und zum Abschluss: Was gibt’s Neues, #IchBinHanna?
In dieser Rubrik halte ich Euch über Neuigkeiten zu #IchBinHanna auf dem Laufenden.
Nicht nur Ortswechsel stehen der Familienfreundlichkeit wissenschaftlicher Arbeit im Weg – auch Semesterzeiten, die nicht zu den Schulferien passen. Das ist (nicht nur) in NRW der Fall. Eine Initiative der SPD soll das jetzt in NRW ändern – mehr dazu und weitere Argumente für andere Semesterzeiten könnt Ihr im Blog von Jan-Martin Wiarda und unter dem Hashtag #SemesterUnvereinbar nachlesen.
Wenn befristet Beschäftigte mit wissenschaftlichem Fehlverhalten durch Vorgesetzte konfrontiert sind, können sie sich an Ombudspersonen wenden. Auf diesem Panel zur Ombudsarbeit beim Symposium des Ombudsman für die Wissenschaft argumentiere ich dafür, dass das allein aber nicht ausreicht und wir dringend neue Strukturen brauchen, um Fehlverhalten und Machtmissbrauch beizukommen.