Demokratieverantwortung der Wissenschaft: Jetzt erst recht!
Selten haben sich politische Ereignisse mit Demokratierelevanz derart überschlagen wie am 6. November 2024. Morgens die Nachricht, dass Trump in den USA die Wahl gewonnen hat; nachmittags die Info, dass die Sondierungen für eine Brombeer-Koalition in Sachsen gescheitert sind; und abends dann konnten wir live dabei zusehen, wie sich die Ampelregierung aufgrund der unsäglichen Dauerblockadehaltung von Lindner et al. endgültig zerlegt hat. All das dürfte derart vielfältige Konsequenzen für die deutsche Wissenschaft haben, dass es gar nicht so leicht ist, hier einen Überblick zu gewinnen. Neben dem Einfluss des Wahlausgangs in den USA auf wissenschaftliche Kooperationen und der Frage, was die Situation in Sachsen für die Wissenschafts- und Bildungspolitik vor Ort bedeutet, ist es für die Wissenschaftscommunity in Deutschland besonders von Belang, wie es auf Bundesebene weitergehen wird. Bettina Stark-Watzinger ist seit letzter Woche als Bundesforschungsministerin weg vom Fenster — das Bedauern darüber dürfte sich in weiten Teilen der Wissenschaft in Grenzen halten: Die Amtszeit der Ministerin war geprägt von einer Mischung aus dreister Arbeitsverweigerung (etwa in Sachen WissZeitVG und Maßgabebeschluss für ein Dauerstellenprogramm) und autoritärem Gehabe, das zuletzt in erschreckender Weise im Rahmen der bis heute nicht aufgearbeiteten Fördergeldaffäre zum Ausdruck kam. Das BMBF wird nun erst einmal von Grünen-Politiker und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir geführt. Es ist fraglich, ob der WissZeitVG-Reformprozess, der sich seit Jahren hinzieht und der mit dem kürzlich endlich erfolgten Start des parlamentarischen Verfahrens kurz vor dem Abschluss stand, in der nun verkürzten Legislaturperiode überhaupt noch zum Ende gebracht werden wird. Aber noch auf einer anderen, sehr viel grundsätzlicheren Ebene muss die Entwicklung auf Bundesebene uns Wissenschaftler_innen Anlass zur Sorge geben: Auch für die Wissenschaft geht es um alles, denn unsere Demokratie ist nach dem Zerbrechen der Ampel nicht weniger bedroht — im Gegenteil. Der heutige Newsletter widmet sich der Frage, was das für die Wissenschaft heißt und wie sie darauf reagieren sollte: ein Plädoyer für #LauteWissenschaft unter neuen politischen Vorzeichen.
Angriffe auf die Demokratie: Wo steht die Wissenschaft?
Stell Dir vor, die Feind_innen der Demokratie stehen vor der Tür und erbitten Einlass. Sie sagen: „Hallo, wir sind gekommen, um Eure Demokratie abzuräumen und mit ihr all die Grundrechte, auf die ihr Euer Zusammenleben gründet — können wir reinkommen?“ An der Tür stehen einige Wissenschaftler_innen, sie schauen verwundert. „Wir können uns jetzt nicht für die Demokratie positionieren und denen verbieten, hier einzutreten: Wissenschaft sollte doch neutral sein!“, gibt ein_e Wissenschaftler_in zu bedenken. „Und woher wissen wir überhaupt, ob die Demokratie die beste Staatsform ist? Für die die besten Argumente sprechen? Das sollten wir erst einmal in Ruhe ausdiskutieren! Denn die einzige Autorität, die ich anzuerkennen bereit bin, ist das bessere Argument — Ihr wisst schon, Habermas! Ich schlage deshalb vor, dass wir dazu erst einmal eine Ringvorlesung organisieren — spätestens im übernächsten Semester!“, so ein_e weitere Wissenschaftler_in. „Ja!“, pflichtet ein drittes Mitglied der Wissenschaftler_innen den Vorredner_innen bei, „Das alles muss dringend erstmal eingehend diskutiert werden — und zwar ergebnisoffen, wie sich das für die Wissenschaft gehört!“ „Sollten wir nicht zunächst einmal den Begriff der Demokratie abschließend klären, um darüber sprechen zu können, ob sie tatsächlich so schützenswert ist, wie einige behaupten?“, fügt ein_e Wissenschaftler_in nachdenklich hinzu. „Und außerdem sollten wir mal über dieses Gendern sprechen, ich finde das sowas von daneben!“, platzt es schließlich noch aus einer weiteren Person aus dem Kreise der Wissenschaftler_innen heraus. Und während die Wissenschaftler_innen noch engagiert fachlich diskutieren, haben sie gar nicht bemerkt, dass die Antidemokrat_innen sich an ihnen vorbeigeschlichen haben (viel Mühe hat es sie nicht gekostet). Sie haben schon längst damit begonnen, den Raum zu zerlegen, und reißen nun langsam das ganze Haus von innen ab.
Ist das eine zynische Beschreibung des Status quo? Überspitzt? Nun: Es sind exakt solche Diskussionen, die ich dieser Tage immer und immer wieder führe, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Kontexten. Es ist kein Geheimnis, dass ich mich wiederholt dafür ausgesprochen habe, dass Wissenschaft Haltung zeigen sollte für unsere Demokratie. Und ja: ich bin die Erste, die sich im wissenschaftlichen Kontext für die Klärung von Begriffen einsetzt (wenig überraschend als Philosophin). In der Wissenschaft spreche ich mich ständig dafür aus, Habermas’ Diktum vom zwanglosen Zwang des besseren Arguments ernst zu nehmen: Ein überzeugendes Argument ist und bleibt ein überzeugendes Argument — egal, ob es von Profs, befristet beschäftigten Wissenschaftler_innen, Studierenden oder sonst jemandem geäußert wird. Es ist die Güte des Arguments, die wissenschaftlich ins Gewicht fallen sollte, nicht der Status der Person, die es äußert.
Wissenschaft und Politik: Achtung, Verwechslungsgefahr!
Gleichwohl ist es schlicht ein Missverständnis, dass wir es hier mit Wissenschaft zu tun haben und dass dementsprechend auch die innerwissenschaftlichen Diskursregeln zur Anwendung kommen sollten (oder auch nur können). Der Kontext, in dem wir uns bewegen, ist der der Politik. Und Politik funktioniert nun einmal anders als Wissenschaft. Damit will ich keineswegs nahelegen, dass in der Politik die Güte von Argumenten nichts zählt. Ich bin sicher, dass wir mit unserer Initiative #IchBinHanna wissenschaftspolitisch auch deshalb so weit gekommen sind, weil wir einfach richtig gute Argumente haben. Aber: Politik funktioniert insofern anders als Wissenschaft, als dort bestimmte Annahmen mit erheblichen Kosten verbunden sein können. Was ich damit meine: Innerhalb der Wissenschaft kann man alles Mögliche, auch noch so Absurdes, ja, innerhalb gewisser Grenzen ggf. sogar Problematisches oder Schreckliches annehmen und argumentativ durchspielen, ohne dass man gravierende Konsequenzen zu fürchten hätte. Man kann das im Wege des Gedankenexperiments tun, man kann die Wahrheit einer These „for the sake of the argument“ annehmen, man kann mithilfe einer reductio ad absurdum zeigen, dass aus einer getroffenen Annahme etwas Absurdes folgt. In der Politik hingegen ist es mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden, problematische Thesen zu äußern, auch dann, wenn man sich davon explizit abgrenzt. Denn wer eine These äußert, weist sie damit als sagbar aus, legitimiert sie dadurch ein Stück weit — und zahlt obendrein auf das Konto derer ein, die die These vertreten, indem mehr Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Und: Es ist bekannt, dass ein Verschieben der Grenzen des Sagbaren zur politischen Strategie der Neuen Rechten gehört — sie verfolgen diese Strategie mit Ansage.
Wenn Wissenschaftler_innen nun in öffentlichen Kontexten die Demokratie zur Disposition stellen, werden diejenigen hellhörig, die vorhaben, sie abzuschaffen. Wir bewegen uns hier nicht innerhalb des wissenschaftlichen Spiels mit Hypothesen, die man ausprobieren kann und die sich, sollte es ihnen an Überzeugungskraft mangeln, problemlos zurückweisen lassen — ein Spiel, für das man das Prinzip der Ergebnisoffenheit durchaus hochhalten kann. Dieses wissenschaftliche Spiel zeichnet unter anderem aus, dass die daran Beteiligten die Regeln kennen und überwiegend nach ihnen spielen. Im Feld der Politik aber sind die Regeln andere, und man darf nicht von allen Beteiligten erwarten, dass sie sich in redlicher Weise daran orientieren. Argumentative Tricksereien und schwarze Rhetorik sind hier keine Seltenheit. Für diejenigen, die problematische Thesen wie die von der Verzichtbarkeit der Demokratie vertreten, ist es bereits ein Triumph, diese Thesen aus dem Mund von Wissenschaftler_innen zu hören, die zumindest in Betracht ziehen, dass sie zutreffen könnten. Wir Wissenschaftler_innen sind deshalb gut beraten, uns sorgfältig zu überlegen, ob wir derartige wissenschaftliche Gedankenspiele in den öffentlichen politischen Diskurs tragen und so riskieren wollen, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass sie dereinst Realität werden. (Ausführlicher habe ich diese Überlegungen in einem Aufsatz zur Ethik der Wissenschaftskommunikation dargelegt, der demnächst in der Zeitschrift für medizinische Ethik erscheint.)
Es ist zudem einigermaßen bezeichnend, dass von Wissenschaftler_innen ausgerechnet das Erfordernis einer Ergebnisoffenheit der Diskussion über den Status der Demokratie ausgerufen wird. Denn dass wir ergebnisoffene Diskussionen führen können, ist ja überhaupt erst ein Resultat der demokratischen Strukturen, innerhalb deren wir uns aktuell bewegen. Ich habe in diesem Newsletter schon mehrfach darüber geschrieben, wie zentral unsere Freiheitlich-Demokratische Grundordnung für unsere Tätigkeit als Wissenschaftler_innen ist. Jetzt mag man einwenden (und ja, auch diesen Einwand höre ich immer wieder): „Aber Halt! Wissenschaft lässt sich doch auch in anderen Staatsformen treiben!“ Ja. Das mag sein. Man kann der Forderung, dass allen Menschen gesunde und ausgewogene Nahrungsmittel zur Verfügung stehen sollten, auch damit begegnen, dass es durchaus möglich ist, sich ausschließlich von Toastbrot zu ernähren. Wünschenswert ist das aber mitnichten, und genauso, wie man bei einer reinen Toast-Diät eine Mangelernährung mit gesundheitlichen Folgen riskiert, wäre eine Staatsform, die die Freiheit und Vielfalt der Wissenschaft systematisch beschneidet, ganz sicher nicht förderlich für das Wohl und Gedeihen von Forschung und Lehre, von den Wissenschaftler_innen und wissenschaftlichen Institutionen mal ganz zu schweigen.
Keine Frage: Es gibt vieles an unserer Demokratie, das sich mit guten Gründen kritisieren lässt. Aber diese Demokratie ist die einzige, die wir haben. So unperfekt sie ist: sie ermöglicht es uns, produktiv über sie zu streiten. Und: Was einmal zerstört ist, lässt sich auch nicht mehr neu gestalten. Es ist daher auch an uns Wissenschaftler_innen, jetzt für diese Demokratie einzutreten. Geben wir denen, die es auf sie abgesehen haben, nicht ungewollt Schützenhilfe bei ihrer Abschaffung, indem wir im politischen Diskurs Zugeständnisse hinsichtlich der Unbestreitbarkeit ihres Status machen!
Schluss mit Wissenschaft auf X — für die Demokratie!
Und es gibt noch etwas, das Wissenschaftler_innen ebenso wie wissenschaftliche Institutionen für die Demokratie tun können — sofern nicht schon längst geschehen: Sie können sich endlich von der Plattform X zurückziehen. Wer die Plattform weiterhin nutzt, trägt zu ihrer Relevanz und Legitimierung ebenso bei wie zur Normalisierung der sie überschwemmenden antidemokratischen Inhalte. Ein verdammt hoher Preis für die durch Musk schon längst merklich eingeschränkte, überschaubare Reichweite! Wer noch damit hadert, X zu verlassen, sollte die bestechenden Argumente zur Kenntnis nehmen, die Christian Stöcker in seiner letzten SPIEGEL-Kolumne für den X-Ausstieg zusammengetragen hat. Und wem das immer noch nicht reicht: J. D. Vance hat damit gedroht, dass die USA sich aus der NATO zurückziehen, sollte die EU Musk nicht in Ruhe lassen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird Musk X dazu nutzen, sich in den deutschen Wahlkampf einzumischen. Und wenn er das tun wird, dann aller Voraussicht nach zugunsten der AfD.
Und nein, wir haben es uns keineswegs leicht gemacht, als wir Anfang des Jahres X hinter uns gelassen haben. Für mich persönlich war es ein massiver, ja, ein schmerzhafter Einschnitt: Twitter war für mich Zuhause, ich war damit praktisch symbiotisch verbunden, ständig am Handy, habe diese Plattform gefühlt, die tollsten Menschen dort kennengelernt, vieles mit ihnen geteilt, richtig Spaß gehabt, einiges dort hat mich berührt und auf vielfältige Weise bereichert. Aber ich musste einsehen: Auf X gibt es schon lange nichts mehr zu gewinnen. Du kannst noch so geile Tweets schreiben, noch so viele Follower_innen haben (darunter die für Dein Thema wichtigen Leute aus Medien und Politik, wie es bei uns der Fall war), noch so viel relevanten Content produzieren: Gegen Musks Algorithmen lässt sich einfach nicht gewinnen. Gerade weil Twitter für mich wie ein Teil von mir war, habe ich das überdeutlich gespürt. Ich wollte und will nicht mehr Teil von X sein und die Plattform dadurch mit legitimieren, seit dort vermehrt antidemokratische Inhalte gepusht werden und der öffentliche Diskurs noch mehr auf Krawall gebürstet wird als ohnehin schon.
Wissenschaftler_innen und Wissenschaftsinstitutionen sollten sehr genau überlegen, ob sie bereit sind, für das bisschen Reichweite ein Business zu unterstützen, das sich die Unterwanderung der Demokratie zur Aufgabe gemacht hat. Genau genommen sollten sie sich bei jedem Argument, das sich noch für die Nutzung von X auftreiben lässt, sehr genau fragen, ob es DAS wert ist. Das gilt einmal mehr, da die X-Alternative Bluesky aktuell erfreulich viel Zulauf erhält. Was wir als Wissenschaftscommunity für die Demokratie tun können, fängt im Kleinen an — X verlassen ist ein guter Anfang. Fortsetzung folgt!