Freiräume für wissenschaftliche Begegnung: Lernen vom Bielefelder ZiF
Wissenschaft ist mein Beruf, jedenfalls noch: Statt einer Aussicht auf Entfristung hat meine Juniorprofessur ein Ablaufdatum, das sich bereits deutlich am Horizont abzeichnet — und das zugleich das höchstwahrscheinliche Ende meiner beruflichen Tätigkeit im deutschen Wissenschaftsbetrieb markiert. Es ist kein Geheimnis, dass ich damit inzwischen einigermaßen meinen Frieden gemacht habe. Dennoch gibt es nach wie vor manchmal Momente und Situationen, in denen es mir dann doch einen Stich ins Herz verpasst, mich mit dem Gedanken an ein Ende meiner Beschäftigung als Wissenschaftlerin zu konfrontieren. So ging es mir am vergangenen Mittwoch, als ich anlässlich eines gemeinsam mit Benjamin Paaßen und Maximilian Mayer organisierten Workshops zu KI und Autonomie in der Hochschulbildung die Stufen zum Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld hochstieg. Das in dem Wissen zu tun, dass es sehr wahrscheinlich recht bald vorbei ist mit mir und der Wissenschaft — und damit auch mit meinen Aufenthalten im ZiF, die in den vergangenen elf Jahren mit erfreulicher Häufigkeit stattgefunden haben —, tat erstaunlich weh. Das hat wesentlich damit zu tun, wofür dieser besondere Ort in meinen Augen steht: für echte Freiräume zum gemeinsamen Forschen, für Begegnungen, interdisziplinär und international. Begegnungen vor allem auch mit den Menschen hinter der Forschung, die hier als solche tatsächlich einen Platz haben mitsamt allem, was sie in der Wissenschaft und darüber hinaus bewegt — und ja, auch mit ihren Bedürfnissen jenseits der basalen Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Arbeit. Wie das ZiF es hinbekommt, ein derart spezieller Ort zu sein, und was sich daraus für die Organisation von Wissenschaft insgesamt lernen lässt: Darum geht es im heutigen Newsletter.
Wo bitte geht es hier zum Forschen? Verloren im Labyrinth des akademischen Alltags
Ich habe seit 13 Jahren wechselnde Positionen inne, für die eigentlich ein ordentlicher Forschungsanteil vorgesehen ist. Den Großteil der 13 Jahre war ich an deutschen Universitäten beschäftigt — während der Promotion auf einer halben Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin, als Postdoc dann mal auf einer vollen, mal auf einer halben und überwiegend auf zwei halben Stellen parallel. Seit April 2022 bin ich Juniorprofessorin. Abgesehen von einer mehrere Monate andauernden Phase der Arbeitslosigkeit während der Promotion wurde meine Tätigkeit an den Unis noch durch eine andere Phase unterbrochen: Als Doktorandin war ich 2015/16 zehn Monate lang Fellow in der Forschungsgruppe Ethik des Kopierens am Bielefelder ZiF. Damit verbunden war ein Promotionsstipendium, das die üblichen Probleme von Stipendien mit sich brachte. Davon einmal abgesehen lernte ich im ZiF aber eine Kultur des wissenschaftlichen Austauschs kennen, die man im klassischen akademischen Betrieb allzu oft vergeblich sucht. Denn anders als ich es von meiner Arbeit an den Unis kannte, die von Lehre, der Betreuung von Studierenden, dem Schreiben von Anträgen (was als Postdoc in Düsseldorf in Teilen ‚mein Job‘ war), allerlei administrativen Tätigkeiten und (in meinem Fall) Gremienarbeit geprägt war, musste ich hier plötzlich nicht mehr um jede einzelne freie Minute für meine Forschung kämpfen. Während ich diesen Kampf an den Unis regelmäßig verlor und immer noch verliere (zunächst zulasten der Diss, aber auch zulasten anderer Vorhaben), ermöglichte mir das ZiF auf einmal, mich wirklich auf Inhalte zu konzentrieren. Und das — womit ich zum für mich entscheidenden Punkt komme — keineswegs allein, sondern im kontinuierlichen Austausch mit anderen, die mein Nachdenken mit ihren vielfältigen disziplinären Perspektiven extrem bereichert haben.
Das Format, von dem wir damals profitiert haben, ermöglichte es uns, als Forschungsgruppe ganze zehn Monate auf dem ZiF-Campus zu arbeiten — und zu leben. (Inzwischen sind die Förderlinien etwas verändert worden, hier mehr dazu.) Einmal wöchentlich gab es einen Jour fixe, bei dem wir u.a. Texte von uns Forschungsgruppen-Fellows diskutierten. Aber auch jenseits dieses fixen Termins ergaben sich viele Möglichkeiten zum Austausch in größerer oder kleinerer Runde, bei gemeinsamen Spaziergängen durch den Teutoburger Wald, bei einer Runde Billard am hauseigenen Pool-Tisch oder beim Mittagessen, das teils auch vom großartigen ZiF-Wirtschaftsbetrieb für uns zubereitet wurde.
Diverse wissenschaftliche Publikationen und Beiträge zur Wissenschaftskommunikation sind aus dieser Gruppe hervorgegangen, sie hat einige größere Tagungen im ZiF veranstaltet (immer mit tatkräftiger Unterstützung der Mitarbeitenden des ZiF), substantielle Teile von Dissertationen sind dort entstanden (meine eigene eingeschlossen) und es wurden Netzwerke geknüpft, die teils auch noch lange über die Gruppenarbeitsphase hinaus bis heute Bestand haben. Viel wertvoller als diese greifbaren Resultate war aus meiner Sicht allerdings die Möglichkeit, überhaupt einmal längerfristig mit Forschenden aus unterschiedlichen Disziplinen im Gespräch zu bleiben. Solche Diskussionen sind im üblichen akademischen Alltag schon punktuell äußerst selten — sie sogar über Monate führen zu können, kommt mir bis heute wie ein irrsinniger Luxus vor.
Das ZiF hält dafür überaus komfortable Rahmenbedingungen bereit, die es eben auch erlauben, einander besser kennenzulernen, als Gruppe zusammenzuwachsen, sei es auf gemeinsamen Waldwanderungen, beim Zusammen-Kochen oder beim Musizieren im Fellowraum. Dass das sogar in deutlich kürzerer Zeit gelingen kann, hat unser Workshop letzte Woche uns eindrücklich vor Augen geführt: Aus den Teilnehmenden wurde rasend schnell eine gut zusammenarbeitende Gruppe, in kleineren Teams fanden sich selbstbestimmt Themen, die bearbeitet und vertieft werden wollten, und bei alledem hat sich vor allem eines eingestellt, jedenfalls bei mir: die pure Freude am wissenschaftlichen Austausch, der nicht ständig mit anderen Aufgaben konkurrieren muss (wobei er dabei in aller Regel den Kürzeren zieht). In den Workshop-Phasen am Nachmittag, die wir bewusst zur freieren Gestaltung durch die Teilnehmenden geplant hatten, entstanden erstaunlich fix Ideen und Skizzen für die weitere Zusammenarbeit, darunter Vorarbeiten für ein klassisches Paper, ein Policy-Paper und kleinere Formate, die wir demnächst auf einer Website zugänglich machen möchten. Und während alledem wurden wir bestens umsorgt — es gab Kaffee, Essen und organisatorische Unterstützung (denn ja, auch Wissenschaftler_innen bestehen nicht bloß aus Köpfen, da hängen noch Körper dran, und es täte der Wissenschaft gut, die öfter so zu versorgen, dass die Köpfe ihrer Arbeit gut nachgehen können).
Überall ist ZiF? Woran sich das deutsche Wissenschaftssystem ein Vorbild nehmen sollte
Klar ist: Mein damaliges Gefühl als Doktorandin, während unserer Forschungsgruppen-Zeit im paradiesischen Luxus gelandet zu sein, hat mich nicht getrogen. Natürlich lässt sich das, was im ZiF möglich ist, schon allein aus Ressourcen- und Raumgründen nicht einfach an vielen Orten machen. Aber dennoch wären auch in der Breite schon jetzt, mit den vorhandenen Möglichkeiten, sehr viel mehr Freiräume für einen produktiven, auch disziplinenübergreifenden Austausch in der Forschung möglich. Denn viele administrative Dauerbaustellen, die diesen Freiräumen im Weg stehen, sind hausgemacht. Das fängt schon an bei der ständigen Antragstellerei, die zahlreiche befristet Beschäftigte spätestens nach ihrer Promotion umtreibt, aber auch Professor_innen, die Mitarbeitende weiterbeschäftigen wollen (und Zielvereinbarungen erfüllen müssen), nachhaltig okkupiert. Für fortgeschrittene Forschende spiegelt sich der Antragsaufwand dann nicht selten im Begutachtungsaufwand, denn irgendjemand muss schließlich all die Anträge bewerten, die geschrieben werden, um die eigene berufliche Existenz oder die der Mitarbeitenden fortzuführen und sonstige für die Forschung benötigten Mittel einzuwerben. Bekanntermaßen ereignet sich viel von dieser Arbeit, ohne Früchte zu tragen: Angesichts überschaubarer Bewilligungsquoten sind zahlreiche Antragsvorhaben für die Tonne — oder erfordern einiges an zusätzlicher Arbeit, um für andere Förderlinien recycelt zu werden.
Gerade befristet Beschäftigte investieren überdies viel Zeit, um sich zu bewerben — weil sie es müssen. Sobald es an Professurbewerbungen geht, schlagen wir uns dann oft mit aufwändigen Berufungsportalen herum, außerdem mit Forschungs- und Lehrkonzepten und ähnlichen Papieren, die nicht selten unsinnigerweise bereits für die erste Auswahlrunde eingefordert werden (und damit umso seltener gelesen werden dürften). Ständig wechselndes Personal muss sich zudem an immer neuen Orten in bestehende Abläufe, Modulhandbücher, Prüfungsordnungen usw. einarbeiten — auch das frisst Zeit, Energie und Ressourcen.
Das alles müsste so nicht sein. Mit mehr unbefristeten Stellen für Postdocs und Mindestvertragslaufzeiten in der Promotion, einer auskömmlichen Grundfinanzierung und der so möglichen Abwendung vom völlig aus dem Ruder gelaufenen Drittmittel-Hyperwettbewerb, in dem die Investitionen durch die Mitglieder des Wissenschaftssystems in einem eklatanten Missverhältnis zum Ertrag stehen, wären deutlich mehr Freiräume gewonnen, um den Fokus endlich wieder stärker auf die Forschungsarbeit legen zu können. Freiräume, die zu einem offenen gemeinsamen Nachdenken einladen könnten — jenseits der ständigen Orientierung auf vorgegebene Deliverables und Kooperationen als bloßen Zweckgemeinschaften aus der monetären Not heraus.
Wenn ich darüber nachdenke, warum ich Wissenschaft als Beruf gewählt habe, kommt mir vor allem eines in den Kopf: weil ich gern zusammen mit anderen nachdenke, um zu lernen, zu verstehen, weiterzukommen — mitunter durchaus auf Umwegen, aber eben mit Freude daran, den Weg gemeinsam zu beschreiten. Das ZiF in Bielefeld ist der Ort gewordene Inbegriff eines solchen Wissenschaftsverständnisses. Die deutsche Wissenschaft täte gut daran, mehr solcher Orte zu schaffen, und sei es im Kleinen — durch eine Rückbesinnung darauf, dass es uns doch eigentlich um Forschung gehen sollte und nicht um zeitfressende Versuche, die ohne Not errichteten Hindernisse, die ihr im Weg stehen, immer wieder aufs Neue aus dem Weg zu räumen.