Gemütlich einkuscheln?! Ein #IchBinHanna-Gruß vor den Feiertagen
Eines müssen wir #IchBinHanna-Initiator_innen mit Verwunderung, aber durchaus auch mit einiger Anerkennung feststellen: Wenn diejenigen, die die Arbeitsbedingungen in der deutschen Wissenschaft verteidigen, eines können, dann ist es das Liefern von Steilvorlagen, um ihre fragwürdigen Positionen und Argumente als solche zu entlarven. Am vergangenen Mittwoch war es wieder einmal soweit: Im Landtag Nordrhein-Westfalens fand im Wissenschaftsausschuss eine Anhörung statt, bei der u.a. ich als Sachverständige gehört wurde — ich hatte darüber bereits in der vergangenen Woche hier im Newsletter geschrieben. Unter den Sachverständigen war auch Frau Professorin Brigitta Wolff, derzeit Rektorin der Universität Wuppertal, die im Ausschuss die Landesrektorenkonferenz NRW vertrat. In einer Reaktion auf ein Statement von mir sagte sie dies:
„Ich hoffe, ich hab’ sie missverstanden, wenn ich Sie jetzt auch so verstanden hab’, dass Sie faktisch gesagt haben, wir brauchen Mittelbaustellen auch weil die Leute gar nicht mehr Prof werden wollen und sich — jetzt meine Lesart — lieber gemütlich im Mittelbau einkuscheln.“
Verständlicherweise waren viele aus der Wissenschaftscommunity von dieser Bemerkung nachdrücklich irritiert und tun das seit Mittwoch in großer Zahl auch in den Sozialen Medien kund. Ein neuer Hashtag kursiert seitdem bei Bluesky, LinkedIn und Co.: #Einkuscheln. Was genau ist es aber, was die Bemerkung von Frau Professorin Wolf so problematisch macht? Was verrät sie über die Perspektive, die einige Wissenschaftsfunktionär_innen nach wie vor auf das deutsche Wissenschaftssystem und seine Beschäftigten haben? Und warum richtet diese Perspektive für den Wissenschaftsstandort Deutschland erheblichen Schaden an? Darüber möchte ich heute schreiben — ehe wir uns über die Feiertage alle gemütlich einkuscheln.
Der faule entfristete Mittelbau und andere Nonsens-Narrative
Wer die #IchBinHanna-Debatte schon länger verfolgt, kennt die abstruse Erzählung von den wissenschaftlichen Beschäftigten, auf die sich in der Sekunde der Unterzeichnung eines unbefristeten Arbeitsvertrags eine lähmende Faulheit legt, die sie fortan daran hindert, ihren Beruf engagiert auszuüben. Ein Geheimnis, in das wir auch nach Jahren der #IchBinHanna-Arbeit noch immer nicht eingeweiht worden sind, ist dies: Warum sollte die unbefristete Beschäftigung im Mittelbau Faulheit erzeugen, während die Lebenszeitverbeamtung von Professor_innen deren Leistungsbereitschaft keinen Abbruch tut? Es gibt darauf freilich keine befriedigende Antwort, weil die These vom unbefristeten Einkuschel-Mittelbau nichts als großer Quatsch ist: In ihrer WissZeitVG-Evaluation halten Kuhnt, Reitz und Wöhrle fest, dass sich im Hinblick auf unbezahlte Mehrarbeit kein signifikanter Unterschied zwischen befristet und unbefristet beschäftigten Wissenschaftler_innen erkennen lässt. Wir haben es hier also einmal mehr mit einer haltlosen wissenschaftspolitischen Behauptung ohne jede Evidenz zu tun. Dass es für sie keine Belege gibt, ist aber nur ein Teil des Problems mit dieser (im hiesigen Kontext besonders abschätzig in Worte gefassten) Behauptung. Ein weiteres: Das Narrativ hat eine systemstabilisierende Funktion.
Der Forschungs- und Lehrbetrieb in Deutschland baut auf unbezahlte Überstunden
Es gibt nämlich durchaus einen Grund, aus dem man als Leitungsperson in der Wissenschaft wollen kann, dass Wissenschaftler_innen — auch auf unbefristeten Stellen – weiterhin brav die Professur anstreben und sich dafür fleißig Arme und Beine ausreißen: Das aktuelle deutsche Wissenschaftssystem basiert in weiten Teilen auf unbezahlten Überstunden, die im großen Stil von seinen Beschäftigten erwartet, mitunter gar erzwungen und durchaus auch geleistet werden. Das funktioniert nicht zuletzt deshalb so prima, weil es in der deutschen Wissenschaft überwiegend keine Arbeitszeiterfassung gibt – auch, wenn es sie aufgrund der EU-Rechtslage eigentlich geben müsste. (Das BMBF unter Ex-Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger hatte wenig überraschend dennoch versucht, die Wissenschaft von der Arbeitszeiterfassung auszunehmen.)
Die Debatte um Arbeitszeiterfassung in der Wissenschaft treibt kuriose Blüten, deshalb vorab die folgenden Klarstellungen: Arbeitszeiterfassung bedeutet erstens nicht, dass die zeitliche Flexibilität des Arbeitens in der Wissenschaft plötzlich abgeräumt würde. Die wäre weiterhin gegeben, denn es bedarf keiner Angabe von „Kernzeiten“ o.ä. Zweitens ist auch die räumliche Flexibilität durch die Erfassung der Arbeitszeit keineswegs in Frage gestellt: Homeoffice, das Arbeiten unterwegs im Zug usw. bleiben weiterhin möglich. (Genauer nachlesen kann man das alles in diesen Folien des Juristen Simon Pschorr.)
Der ganze Witz an der Arbeitszeiterfassung ist aber, dass sie endlich sichtbar machen würde, wie viel unbezahlte Mehrarbeit in der Wissenschaft tatsächlich geleistet wird — ein wichtiger Schritt, um dieser Praxis endlich einen Riegel vorzuschieben. Ein paar Zahlen dazu gibt es zwar bereits. So machen Promovierende im Schnitt 13 unbezahlte Überstunden pro Woche, bei Postdocs sind es im Schnitt zehn, wie im BuWiN nachzulesen ist. Aber es ist höchste Zeit, das genauer zu erfassen, flächendeckend und für einzelne Einrichtungen im Detail. Denn: Überstunden gehen zulasten der Beschäftigten, die sie in aller Regel nie abfeiern — kein Wunder, sind diese Überstunden doch bislang unsichtbar, offiziell gar nicht existent und ihr tatsächliches Ausmaß bleibt durch Nicht-Erfassung hübsch verschleiert.
Aber warum arbeiten die Beschäftigten eigentlich derart viel? Nun, ein wesentlicher Grund ist sicherlich, dass sie sich dadurch bessere Chancen im chancentechnisch gelinde gesagt überschaubaren deutschen Wissenschaftssystem erhoffen. Wer richtig viel arbeitet, so die Hoffnung, setzt sich im Rattenrennen vielleicht gegen die anderen richtig viel Arbeitenden durch — und erhält eine der heiß ersehnten, äußerst rar gesäten Professuren.
Nun sind Professuren in Deutschland aber vor allem deswegen so heiß begehrt, weil sie praktisch die einzige Option sind, um langfristig in der deutschen Wissenschaft arbeiten zu können. Werden nun mehr unbefristete Stellen neben der Professur geschaffen, geschieht zweierlei: Der Druck, sich ausgerechnet für eine Professur aufzustellen und berufbar zu werden, sinkt — und zugleich erhöhen sich durch mehr Stellen anderen Typs insgesamt die Chancen, den eigenen Beruf langfristig auszuüben. Es ist anzunehmen, dass mit alledem auch die Bereitschaft der Beschäftigten sinkt, sich bis zum Burnout zu verausgaben. Das aber ist richtig gefährlich für die wissenschaftlichen Einrichtungen, die ohne die entsprechende Selbstausbeutung nicht auf die Arbeitsstunden kommen, die sie für das Aufrechterhalten ihres Betriebs benötigen. Hochschulleitungen wissen das. Ein nachvollziehbarer, wenn auch kritikwürdiger Grund, sich davor zu fürchten, dass große Teile des Mittelbaus selbstbestimmt aus dem Professorabilitäts-Hamsterrad aussteigen könnten.
Nur die Harten kommen in den Garten: Von toxischen, exkludierenden Arbeitsidealen
Was an der Äußerung von Brigitta Wolff außerdem mit Recht für einige Empörung in den Sozialen Medien sorgt, ist das fragwürdige Arbeitsideal, das die Formulierung „gemütlich einkuscheln“ transportiert. Während in anderen Branchen alles daran gesetzt wird, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Beschäftigten wohlfühlen und gesund bleiben — dort hat man kapiert, dass das deren Arbeitsleistung zuträglich ist —, setzen Teile der Wissenschaft weiterhin auf Härte und Unerbittlichkeit. Ihr sollt es bloß nicht zu bequem haben, liebe Beschäftigte. Wissenschaftliche Arbeit bedeutet Leid, sie bedeutet Entbehrungen, erfordert Härte gegen sich selbst und andere. Es ist wenig überraschend, dass solche Ideale nicht selten von Menschen propagiert werden, die auf ihrem akademischen Berufsweg selbst daran gelitten haben (wenn auch oft unter anderen Konditionen, dazu gleich mehr). Warum sollen es andere besser haben, wenn man es selbst schwer hatte? Das mag ein psychologisch nachvollziehbarer Reflex sein, aber einer, der sich bei näherer Reflexion sofort verbietet. Auch, weil alle, die ihm nachzugeben drohen, sich eines klar vor Augen führen sollten: Solche Arbeitsideale killen Diversität in vielen Hinsichten. So benachteiligen sie diejenigen zusätzlich, die sich etwa aus gesundheitlichen Gründen oder durch das Leisten von Sorgearbeit nicht auch noch ständig selber treten können, um Härte als Leistungsideal wissenschaftlicher Arbeit zu entsprechen. Die Ansage „habt es bloß nicht zu kuschelig, Arbeit in der Wissenschaft muss unangenehm sein, sonst ist sie nichts wert!“ übersieht, dass für viele Menschen das Leben bereits mit so krassen Belastungen einhergeht, dass unangenehme Arbeitsbedingungen on top schlicht nicht mehr aushaltbar sind. Sind diese Menschen deshalb schlechtere Wissenschaftler_innen? Nein!!
Denen, die im Wissenschaftsmanagement etwas zu sagen haben, sei dieser kleine Tipp ans Herz gelegt: Die Generationen, die inzwischen als potenzielle Beschäftigte den wissenschaftlichen Arbeitsmarkt kritisch unter die Lupe nehmen, werden von solchen Ansagen aller Voraussicht nach eher unbegeistert sein. Dasselbe gilt für die vielen, die in der Wissenschaft arbeiten und — durchaus auch als Resultat der #IchBinHanna-Diskussion — inzwischen keine Lust mehr darauf haben, alles Mögliche mit sich machen zu lassen, schlecht behandelt zu werden und sich allerlei Erniedrigungs- und Demütigungsritualen zu unterwerfen. „Read the room“, möchte man denen zurufen, die wissenschaftliche Arbeit zur Held_innen-Geschichte unter widrigen Bedingungen verklären, die überhaupt erst so widrig sind, weil man sie bei vollem Bewusstsein und ohne Not exakt so ausgestaltet hat.
Aufruf zum subversiven Einkuscheln
Man glaubt es kaum: Auch in der Wissenschaft wollen viele Leute einfach unter verlässlichen Bedingungen ihre Arbeit gut machen, ohne sich für das Erreichen einer Führungsposition über Jahre am Rande des Zusammenbruchs abzustrampeln. Man kann nun natürlich deren Berufswahlentscheidungen, Lebensentwürfe und alles, was sie leisten, als „gemütliches Einkuscheln“ abwerten, weil sie ausdrücklich nicht in die Fußstapfen der professoralen Führungsriege treten wollen (die — und auch das ist schon oft angemerkt worden — es unter den aktuellen hochkompetitiven Konditionen möglicherweise ihrerseits gar nicht erst auf eine Professur geschafft hätten). Man kann durch entsprechende Äußerungen den Versuch unternehmen, ein Wissenschaftssystem zu stabilisieren, das ohne massiven Überstundenanteil und beständige Selbstausbeutung vonseiten der Beschäftigten in sich zusammenbrechen würde, denn ohne unbezahlte Mehrarbeit sänke die Gesamtsumme der Arbeitsstunden eklatant — aller Voraussicht nach in einem Maß, das den Fortbetrieb von Hochschulen und Forschungseinrichtungen einschränken oder gar zum Erliegen bringen würde. Und schließlich kann man mit solchen Äußerungen den Versuch unternehmen, ein toxisches, viele Menschen systematisch exkludierendes Arbeitsumfeld aufrechtzuerhalten, das allen Fürsorgepflichten von Arbeitgeber_innen zuwiderläuft. In der Summe ergibt sich dann aber ein Bild des deutschen Wissenschaftssystems, das dessen Attraktivität für potenzielle Bewerber_innen und aktuell in ihm Tätige noch weiter herabsetzen wird.
Ich schrieb es vergangene Woche bereits auf LinkedIn (in einem Beitrag, von dessen gut 150.000 Views und über 2.600 Reaktionen die noch auf X verbliebene Wissenschaft übrigens reichweitentechnisch nur träumen kann — ein Grund, warum Achim Zolke und ich heute im Research.Table erneut für den #eXit plädieren): Jetzt ist es an der Zeit für alle mit Leitungsfunktion im deutschen Wissenschaftssystem, die da nicht mitmachen wollen, dem von Wolff erhobenen Vorwurf des Einkuschelns entschieden zu widersprechen. Das sendet ein klares Signal an die eigenen Beschäftigten und die, die es werden könnten: das Signal, dass die eigene Verantwortung und Fürsorgepflicht erkannt wurden — und dass es in den Führungsetagen der deutschen Wissenschaft Wertschätzung gibt für die wertvolle und wichtige Arbeit aller, die mit ihren Leistungen tagtäglich dazu beitragen, dass Forschung, Lehre, Betreuung, Administration, Gremienarbeit, Wissenschaftskommunikation und und und überhaupt stattfinden (und stattfinden können). Damit meine ich befristet wie unbefristet beschäftigte Wissenschaftler_innen (auch auf Professuren, die beides sein können), ich meine die Kolleg_innen in der Technik und Verwaltung, den Kommunikationsabteilungen, den Sekretariaten, ich meine die studentischen Beschäftigten sowie all jene, die den Campus sauber und sicher halten, ich meine die, die mit ihrer Arbeit in der einen oder anderen Weise für die Mitglieder ihrer Einrichtungen sorgen, kurz: alle, die mit ihren Tätigkeiten sicherstellen, dass das Arbeiten, Studieren und Leben an Wissenschaftsinstitutionen überhaupt so stattfinden kann, wie wir es kennen. All diese Arbeitenden sind wertvolle Mitglieder dieser Institutionen. Ihnen und ihren Leistungen gebühren Anerkennung und Respekt. Ganz besonders zum Abschluss eines erneut fordernden, von Krisen geprägten Jahres, in dem sie dennoch erneut ihr Bestes gegeben haben.
Alle, die bislang von unten in die oberen Etagen des Wissenschaftsmanagements blicken, möchte ich zudem herzlich einladen, sich mit gutem Gewissen gemütlich einzukuscheln. Denn gegen eine toxische Arbeitsumgebung hilft es am besten, wenn immer mehr der dort Tätigen sich deren schädlichen Standards nicht länger unterwerfen. Das Rattenrennen lässt sich nur stoppen, wenn wir alle langsamer werden. Je weniger von uns Überstunden machen, desto seltener werden sie selbstverständlich erwartet. All das wird nicht nur uns guttun, sondern im Zweifel auch unserer Arbeit, der die ständige Hamsterrad-Hektik sicherlich ebenfalls nicht zuträglich ist. Ausruhen und Selbstfürsorge stehen uns zu, und zwar ohne deren Instrumentalisierung zugunsten einer Leistungssteigerung, sondern einfach so.
In diesem Sinne wünsche ich Euch und Ihnen, liebe Leser_innen, gemütliche und kuschelige Feiertage, die uns allen Gelegenheit geben, den inneren Akku wieder aufzuladen — um dann möglichst erholt in ein wissenschaftlich und wissenschaftspolitisch spannendes Jahr 2025 zu starten und mit vereinten Kräften weiterzuarbeiten an einem fairen, wertschätzenden Wissenschaftssystem.
Damit verabschiedet sich dieser Newsletter bis zum 7.1. in die Weihnachtspause. Ich wünsche Euch und Ihnen schöne Feiertage und alles Gute für den Jahreswechsel!