In zehn Tagen jährt sich die Vorgänger-Initiative von #IchBinHanna zum vierten Mal: Am Reformationstag des Jahres 2020 haben Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon und ich auf Twitter angeregt, unter dem Hashtag #95vsWissZeitVG 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz zu sammeln. Die zahlreichen Tweets haben wir zu 95 Thesen destilliert und hier dokumentiert. Die Community, die damals zusammenfand, hat dann auch #IchBinHanna nach vorne gebracht. Vieles hat sich seit Oktober 2020 verändert. Die Diskussion um Arbeitsbedingungen im deutschen Wissenschaftssystem, aber auch um dessen weitere Probleme und Fehlanreize ist eine andere geworden. Ein grundlegender Änderungsbedarf ist inzwischen allgemein anerkannt; kaum jemand wird noch bestreiten wollen, dass es so, wie es jetzt ist, nicht bleiben kann. Gleichwohl hätten wir uns im Oktober 2020 sicherlich nicht träumen lassen, dass vier Jahre später noch immer kein reformiertes WissZeitVG vorliegt. Mit der Forderung „Hanna entfristen!“ war schließlich nicht gemeint, dass wir diese Debatte auf ewig weiterführen wollen … Denn es gibt auch noch viele andere Baustellen im deutschen Wissenschaftssystem, die dringend angegangen werden müssten (die Finanzierung von Forschung etwa, die skurrile Dauer von Berufungsverfahren oder das Kapazitätsrecht, das schlechte Betreuungsverhältnisse zu Ungunsten aller Beteiligten zementiert, um nur ein paar Beispiele zu nennen).
Immerhin ist seit letzter Woche aber wieder Bewegung in den WissZeitVG-Reformprozess gekommen: Es fand die erste Lesung des Gesetzesentwurfs im Bundestag statt. In die Begeisterung derer, die sie verfolgt haben, dürfte sich allerdings vielfach der Frust gemischt haben, dass die Diskussion auch weiterhin verfahren scheint. Dass das 4+2-Modell für die Postdoc-Phase Quatsch ist, sehen inzwischen eigentlich alle ein. Die Regelung der Postdoc-Phase so zu belassen, wie sie jetzt ist, ist aber offenkundig auch keine Option, war diese Regelung doch aufgrund ihrer eklatanten Mängel ein zentraler Anlass für die #IchBinHanna-Debatte. Die SPD votierte in der Aussprache vor allem für eine Öffnung der Tarifsperre. Grundsätzlich eine vielversprechende Idee, aber: Wie ich bereits letzte Woche hier im Newsletter schrieb, müsste eine solche Öffnung ohne Einschränkungen erfolgen, um nicht die entscheidenden Aspekte bereits vorab von den Tarifverhandlungen auszunehmen. Seit Samstag liegt nun aber ein weiterer Vorschlag auf dem Tisch, der das Zeug hat, die verfahrene Debatte doch noch auf die Zielgerade einer konstruktiven Lösung zu befördern: die Länderöffnungsklausel. Der Vorschlag kommt von Tobias Rosefeldt, Philosophie-Professor an der HU Berlin, der sich schon seit Jahren für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft einsetzt. Was hat es mit der Länderöffnungsklausel auf sich — und warum ist der Vorschlag so aussichtsreich?
Die Länderöffnungsklausel: Möglichkeiten einräumen, auf Länderebene die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu verbessern
In seiner Stellungnahme schreibt Tobias Rosefeldt zur Länderöffnungsklausel:
„Ich möchte vorschlagen, dass das Gesetz eine Länderöffnungsklausel
enthält, durch die es den Bundesländern explizit gestattet wird, die befristete
Beschäftigung an ihren Hochschulen und Forschungseinrichtungen durch weitere Maßnahmen zu regulieren, die im Moment auf Bundesebene nicht zustimmungsfähig sind. Solche Maßnahmen könnten in kürzeren Befristungshöchstdauern, der Pflicht zu früheren Anschlussvereinbarungen, Modellen mit einem Mittelbau-Tenure Track oder aber Höchstquoten für den Anteil befristeter Beschäftigung bestehen.“
Hier wird schon deutlich, was die Idee hinter der Klausel ist: tragfähige Instrumente zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die bereits fester Bestandteil der Debatte sind, die aber bislang nicht (bzw. im Falle der Anschlusszusage in ungeeigneter Form) den Weg in den WissZeitVG-Entwurf gefunden haben, könnten durch die Bundesländer aufgegriffen werden. Eine Länderöffnungsklausel würde den Ländern auf diese Weise Möglichkeiten einräumen, selbst geeignete Regelungen zu treffen, um die Situation von #IchBinHanna zu verbessern.
Aber können die Länder das nicht jetzt schon tun? Theoretisch ja. Die Debatte um das Berliner Hochschulgesetz (BerlHG) zeigt allerdings, dass entsprechende Vorhaben durchaus unter Druck gesetzt werden können, indem man Zweifel an der Zuständigkeit der Länder bzw. der Zulässigkeit entsprechender Länderregelungen sät. „Man“, das ist in diesem Fall die HU Berlin, die gegen das Berliner Hochschulgesetz Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte. Was war da los?
Das BerlHG enthält eine Anschlusszusage-Regelung für Postdocs auf Haushaltsstellen — in § 111 (6) heißt es dazu:
„Mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter oder einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin auf einer Qualifikationsstelle kann vereinbart werden, dass im Anschluss an das befristete Beschäftigungsverhältnis der Abschluss eines unbefristeten Beschäftigungsverhältnisses erfolgen wird (Anschlusszusage), wenn die bei der Anschlusszusage festgelegten wissenschaftlichen Leistungen erbracht wurden und die sonstigen Einstellungsvoraussetzungen vorliegen.“
Diese Regelung war der HU Berlin ein Dorn im Auge — Sabine Kunst, die die BerlHG-Debatte mit ihrem Rücktritt noch weiter zu dramatisieren versuchte, brachte kurz vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt der HU-Präsidentin eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz auf den Weg. Zentrales Argument dieser Beschwerde: Das Land Berlin habe mit dem BerlHG seine Gesetzgebungskompetenz überschritten. Die eigentliche Kompetenz liege hier beim Bund, der davon bereits Gebrauch gemacht habe — es gebe in der Folge für die Länder nichts mehr zu regeln. (Da die Verfassungsbeschwerde nicht öffentlich ist, kann sie im Wortlaut nicht nachgelesen werden. Die HU gab auch anlässlich einer FragDenStaat-Anfrage die entsprechenden Unterlagen nicht heraus. Wie Jan-Martin Wiarda berichtete, enthält die Beschwerde aber noch ein anderes Argument: Wissenschaftliche Mitarbeiter_innen immer wieder auszutauschen sei ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht der Uni. Ob es ein so cleverer juristischer Schachzug war, gegenüber dem Bundesverfassungsgericht dieses Fass aufzumachen — könnte das Gericht hier doch zu dem Schluss kommen, dass wissenschaftliche Arbeitgeber keineswegs das Recht haben, ihre Beschäftigten immer wieder vor die Tür zu setzen und durch neue zu ersetzen — sei dahingestellt.)
Nun liegt die Verfassungsbeschwerde derzeit auf Eis, weil wohl auch das Bundesverfassungsgericht erst einmal den Ausgang der WissZeitVG-Reform abwarten wird. Was die Diskussion aber zeigt, ist dies: Progressive Länder, die mit ihren Hochschulgesetzen die Arbeitsbedingungen ihrer Wissenschaftler_innen verbessern wollen, müssen bis zum Ausgang des Gerichtsverfahrens die Sorge haben, dass entsprechende Einwände auch gegen die von ihnen getroffenen Regelungen vorgebracht werden könnten.
Es ist gleichwohl ein Armutszeugnis, dass die Berliner Regelung zugunsten der Postdocs nun offenbar wieder einkassiert werden soll, wie Table.Media heute berichtet. (Dass eine solche Klausel laut dem Berliner Staatssekretär Henry Marx auf Widerstand der Länder stößt, kann dabei nur verwundern: Wer wehrt sich denn gegen politische Gestaltungsmöglichkeiten?) Zumindest zeigt der aktuelle Verlauf der Berliner Debatte aber eindrücklich, wie wichtig eine Länderöffnungsklausel ist: Sie könnte den Ländern explizit Möglichkeiten einräumen, entsprechende Regelungen zur Verbesserung der Arbeitssituation in der Wissenschaft vorzunehmen. Damit würde sich die Frage nach der Zulässigkeit nicht mehr stellen.
Und wie könnte so eine Länderöffnungsklausel nun aussehen? Rosefeldt macht auch dafür einen konkreten Vorschlag:
„Durch Landesgesetz kann die Höchstbefristungsdauer in § 1 Abs. 1 S. 1, 2 WissZeitVG verkürzt sowie Voraussetzungen für die Befristung von Arbeitsverhältnissen, namentlich Anschlusszusagen, Tenure-Track-Optionen oder Befristungshöchstquoten, vorgesehen werden.“
Was spricht für eine Länderöffnungsklausel im WissZeitVG?
In seiner Stellungnahme nennt Rosefeldt drei Argumente, die für eine Länderöffnungsklausel sprechen. Da wäre zunächst die Beseitigung rechtlicher Unsicherheit: Der Bund räumt den Ländern mit einer entsprechenden Klausel explizit Kompetenz ein, was Diskussionen wie die zum BerlHG vermeidet (s.o.).
Ein weiteres Argument ist die politische Signalwirkung einer solchen Klausel und die damit einhergehende Option, bedürfnisorientierte Lösungen zu schaffen: Die Bundesländer erhalten mit der Klausel eine Gelegenheit, eigene Lösungen umzusetzen — und damit in Konkurrenz um die besten Arbeitsbedingungen einzutreten. (Allen, die jetzt sagen, dass die Länder das doch eh nicht tun werden, möchte ich nur ein Wort mit auf den Weg geben: Fachkräftemangel.)
Das dritte Argument ist schließlich das der Autonomie der Forschungs- und Bildungspolitik gegenüber den Tarifverhandlungen: Mit einer entsprechenden Klausel wird anerkannt, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht allein in den Händen der Tarifparteien liegen sollte, sondern auch eine genuin politische Aufgabe ist.
Ein großer Gewinn der #IchBinHanna-Debatte: Inzwischen ist nicht nur allgemein anerkannt, dass es dringend tragfähiger Lösungen zur Verbesserung wissenschaftlicher Arbeitsbedingungen bedarf — es wurden auch einige konkrete Vorschläge dafür ausgearbeitet. Dazu zählen vor allem eine ausreichend früh erfolgende Anschlusszusage und die Befristungshöchstquote, die Rosefeldt beide in seiner Stellungnahme nennt. Es wäre ein großer Fehler, diese Instrumente nicht ins neue WissZeitVG aufzunehmen. Ein Fehler, für den die deutsche Wissenschaft mit ihrer Attraktivität als Arbeitgeberin bezahlen und die ihr ebenso wie ihren Beschäftigten massiv schaden würde. Sollten sie nicht ins neue WissZeitVG integriert werden, wäre es das Mindeste, den Bundesländern die Möglichkeit einzuräumen, diese Instrumente ihrerseits zu implementieren — mit einer entsprechenden Länderöffnungsklausel, und zwar zusätzlich zur Abschaffung der Tarifsperre, nicht als deren Alternative. Es ist zu hoffen, dass die Mitglieder des Bildungsausschusses das Potenzial einer solchen Klausel erkennen. Denn sollte die WissZeitVG-Reform am Ende eine schlechte Regelung durch eine auf andere Art schlechte ersetzen, ist eines sicher: die #IchBinHanna-Debatte wird weitergehen — so lange, bis sich wirklich etwas zum Guten verändert hat.