Was die Wissenschaftsfreiheit bedroht – und was ganz sicher nicht
Man nehme: 1) Einen Feuilleton-Redakteur einer auflagenstarken deutschen Tageszeitung, die als Leitmedium gilt. 2) Einen 33.000 Mitglieder umfassenden Verband, nach eigener Auskunft „Die Berufsvertretung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland“, der faktisch allerdings zu großen Teilen auf Lebenszeit verbeamtete Professor_innen vertritt und damit Mitglieder der kleinen Elite der deutschen Wissenschaft, die zahlreichen prekär beschäftigten Wissenschaftler_innen gegenübersteht. 3) Den X-Account des besagten Verbands, der von einer bislang unbekannten Person betrieben wird — in einer Weise, die in den vergangenen Wochen bei vielen seiner Mitglieder zu Recht zu Irritation bis hin zu öffentlich kundgetanen Austritten geführt hat. Und schließlich 4): Eine einzelne Literaturwissenschaftlerin, die zur Gruppe prekär Beschäftigter gehört — nicht verbeamtet und als Professurvertreterin befristet angestellt. Das sind die Zutaten einer erstaunlichen Geschichte über die vermeintliche Bedrohung von Wissenschaftsfreiheit. Einer Geschichte, die sich zu erzählen lohnt, weil sich daraus eine Menge lernen lässt. Darüber, wie bestimmte Leute den Diskurs um Wissenschaftsfreiheit immer wieder aufs Neue zu kapern versuchen, wobei mit „Wissenschaftsfreiheit“ in diesem Fall nicht das gemeint ist, was man im Anschluss an das Grundgesetz dafür halten könnte. Nein, Wissenschaftsfreiheit heißt hier, was Protagonist 5) unserer Geschichte darunter versteht: Ein Netzwerk, das sich Wissenschaftsfreiheit auf die Fahnen schreibt, damit aber meint, dass man doch bitte unwidersprochen und ohne jede Kritik Ressentiments gegen gerechte Teilhabechancen für alle Menschen, Gleichstellungsmaßnahmen und noch vieles mehr sollte äußern können. Und das in einer Weise, die mitunter sogar klare Abgrenzungen von Tendenzen vermissen lässt, die unsere Demokratie im Kern gefährden. Aber von vorn.
Was bisher geschah
Ich habe in diesem Newsletter bereits über den Beginn der Geschichte geschrieben, deshalb beschränke ich mich auf einen Rückblick in Kurzfassung bis zu dem Punkt, an dem es richtig sonderbar wird. Die besagte Literaturwissenschaftlerin, meine Stuttgarter Kollegin und #IchBinHanna-Mitinitiatorin Kristin Eichhorn, hatte in einem Gastbeitrag im Blog von Jan-Martin Wiarda den Deutschen Hochschullehrerverband — das ist der mit den 33.000 Mitgliedern — sowie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften dafür kritisiert, sich nicht hinreichend vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit abgegrenzt zu haben (das ist das mit den idiosynkratischen Vorstellungen, was Wissenschaftsfreiheit sei). Das besagte Netzwerk wiederum hat sich bis zum heutigen Tage nicht von seinem Mitglied Ulrich Vosgerau distanziert, der beim Potsdamer Geheimtreffen dabei war und dort einen Vortrag gehalten hat. Im Gegenteil hat Netzwerk-Wissenschaftsfreiheit-Mitglied Sandra Kostner am vergangenen Samstag bei Campus & Karriere im DLF diesbezüglich sogar einen Rechtfertigungsversuch unternommen, indem sie die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung in Frage gestellt hat.
Kristin Eichhorns Appell in ihrem Gastbeitrag im Wiarda-Blog lautete, und das zu Recht: Es ist an den wissenschaftlichen Institutionen, hier eine klare Haltung zu zeigen gegen Tendenzen, die auf die Abschaffung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung abzielen. Man sollte meinen, das sei eine solche Selbstverständlichkeit, dass es ihres Beitrags gar nicht bedurft hätte, gelingt es doch hunderttausenden Menschen Woche um Woche, auf den zahlreichen Demonstrationen überall im Land genau diese Distanzierung vorzunehmen. Menschen, die die gesamte Bandbreite innerhalb des demokratischen Spektrums repräsentieren und zugleich eine klare Grenze zu allen Bestrebungen und Machenschaften ziehen, die die Grundlagen dieses Spektrums zu zerstören drohen.
Nun kommt der FAZ-Redakteur ins Spiel, den wir hier ruhig beim Namen nennen können: Thomas Thiel ordnete die Kritik von Kristin Eichhorn geschwind in den ermüdend gleichförmigen und zugleich ertraglosen Cancel-Culture-Diskurs ein — einen Diskurs, der sich etwa so zusammenfassen lässt: Privilegierte Menschen sehen sich als Opfer, weil sie Dinge, die moralisch grenzwertig oder sogar daneben sind, nicht einfach unwidersprochen äußern dürfen. Was hier „Canceln“ genannt wird, ist einfach Kritik, von der eigentlich allgemein bekannt sein müsste, dass man damit leben muss, wenn man sich öffentlich äußert, zumal wenn man dies in fragwürdiger Weise tut.
Und was macht der Deutsche Hochschulverband, wenn Kritik laut wird an seiner mangelnden Abgrenzung zu demokratiegefährdenden Tendenzen? Er legt eine überaus verwunderliche Social-Media-Kommunikation an den Tag, die die für eine solche Institution gebotene Professionalität deutlich vermissen lässt: Der X-Account des DHV stellt Kristin Eichhorn wiederholt öffentlich an den Pranger. Bereits nach Erscheinen ihres Artikels hatte er ihrer sachlichen Kritik eine „Dämonisierung“ des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit unterstellt, in dessen unmittelbare Nähe der Verband sich immer wieder rückt. Nun sieht sich der DHV durch Thiels Artikel bestätigt und taggt in einem bemerkenswerten Vorgang den (kurz zuvor stillgelegten) X-Account von Kristin Eichhorn. Der digitale Pranger steht, und in der Folge drängt sich vielen DHV-Mitgliedern die Frage auf, mit wessen Mandat der DHV diesen Pranger eigentlich installiert hat.
Über die Reaktion des DHV ließe sich vieles sagen, fest steht aber eins: Sie lässt sich auch mit größtem Wohlwollen (das viele DHV-Mitglieder verständlicherweise längst nicht mehr an den Tag zu legen bereit sind) weder als sachgerecht noch als verhältnismäßig beschreiben. Denn was soll es überhaupt bedeuten, Kristin Eichhorn habe — wie in der FAZ zu lesen ist — zu einer „Cancel-Attacke ausgeholt“? Drohen die überwiegend verbeamteten Mitglieder des Netzwerks oder des DHV ihre Jobs zu verlieren? Nein. Verlieren sie die diversen Privilegien, die damit einhergehen? Auch nicht. Genau genommen passiert einfach überhaupt nichts; es wird allenfalls öffentliche Kritik an der vorgebrachten Positionierung geübt. (Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hingegen droht Geraldine Rauch für den oben verlinkten Text derweil auf X mit „juristische[n] Schritte[n] wegen Verleumdung“ — und nicht einmal das scheint für den DHV ein hinreichender Grund für eine Distanzierung zu sein.)
Was die Wissenschaftsfreiheit wirklich bedroht
Der sich hier erneut zeigenden Larmoyanz einzelner privilegierter Mitglieder des Wissenschaftssystems steht die eigentliche Bedrohung von Wissenschaftsfreiheit gegenüber, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen und der Unwucht der Drittmittelfinanzierung unverkennbar zutage tritt. Einem Juniorprofessor mit Tenure Track wurde an der Uni Potsdam Tenure verwehrt, weil er nicht genügend Drittmittel eingeworben hatte (zuvor war der Kollege von Expert_innen aus seinem Fach positiv evaluiert worden). An diesem Beispiel zeigt sich, worin eine echte Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit besteht: Die, die innerhalb des Systems nicht fest im Sattel einer Lebenszeitprofessur sitzen, müssen echte Sorgen haben. Denn für sie geht es schnell um die eigene berufliche Existenz. Menschen wie der Potsdamer Kollege, der in seinen Kernaufgaben Lehre und Forschung offenkundig einen tadellosen Job gemacht hat, werden abgestraft, wenn sie drittmitteltechnisch nicht hinreichend performen.
Ähnlich bedenklich ist auch die Kritik an der ehemaligen Kieler Uni-Präsidentin Simone Fulda, die zum Rücktritt aufgefordert worden war, weil man ihr vorwarf, in Sachen Exzellenz nicht geliefert zu haben. Zugleich wurden Vorwürfe laut, sie habe die Standards guter wissenschaftlicher Praxis verletzt. Am vergangenen Samstag ist Frau Fulda nun tatsächlich zurückgetreten. Keine Frage: Vorwürfe wissenschaftlichen Fehlverhaltens sind immer gründlich zu prüfen. Es steht allerdings zu hoffen, dass dieser Fall sich nicht einfügt in ein Muster, das wir an diversen Stellen beobachten: Einflussreichen Frauen aus Wissenschaft, Politik oder Journalismus wird Fehlverhalten vorgeworfen, um sie zu diskreditieren. (Dass das in der Sache mitunter überhaupt nicht gerechtfertigt ist, zeigt die „Plagiatsjagd“ auf Alexandra Föderl-Schmid, Stellvertretende Chefredakteurin der SZ, bei der es, wie wir inzwischen wissen, in erster Linie ums Jagen ging und nicht um Plagiate.) Es ist in der Verantwortung der Wissenschafts- und Wissenschaftspolitik-Community, sicherzustellen, dass der Vorwurf vermeintlichen Fehlverhaltens genauso wenig zum Beenden von Karrieren instrumentalisiert werden kann wie der Verweis auf mangelnde Drittmittel-Performance. Gelingt das nicht, sieht es schlecht aus für die Wissenschaftsfreiheit (und für die Gleichstellung unter Umständen gleich mit).
Die deutsche Wissenschaft muss sich jetzt entscheiden. Entweder sie lässt zu, dass ein paar „Cancel Culture“ brüllende Privilegierte den Begriff der Wissenschaftsfreiheit in einer Art und Weise instrumentalisieren, die Gleichstellung und Gerechtigkeitsanliegen unter Druck setzt und Tür und Tor für diejenigen öffnet, die die Demokratie gleich ganz abräumen. Oder sie setzt klare Grenzen — und sichert unser Wissenschaftssystem und damit einen wesentlichen Bereich unserer Gesellschaft gegen Bedrohungen der Demokratie ab. Kristin Eichhorn hat gezeigt, wo sie steht, und das, obwohl sie nicht aus der komfortablen Situation der Lebenszeitprofessur agiert, sondern im Gegenteil aus der beruflichen Unsicherheit heraus. Es wäre wünschenswert, dass alle Wissenschaftler_innen — aber ganz besonders die, die entsprechende Privilegien haben — nun ebenfalls Haltung zeigen. Und das nicht zuletzt gegenüber dem eigenen Berufsverband, der in ihrem Namen eine befristet beschäftigte Kollegin öffentlich an den Pranger stellt.