Was erlaubt ist, wird praktiziert: Einsichten aus der Debatte um Vollzeitarbeit auf Teilzeitstellen
Herzlich willkommen zur ersten Newsletter-Ausgabe nach der Weihnachtspause! Wir schreiben ein neues Jahr, auch wenn wir beim tatsächlichen Schreiben die aus alter Gewohnheit notierte „3“ in den nächsten Wochen sicher noch das eine oder andere Mal nachträglich durch eine „4“ werden ersetzen müssen. Und so hartnäckig, wie sich die über ein ganzes Jahr antrainierte Schreibweise hält, halten sich auch einige Probleme im deutschen Wissenschaftssystem. Die gute Nachricht: Die lassen sich — ebenso wie die veraltete Jahresangabe — in den kommenden Wochen und Monaten aus der Welt schaffen, um dem Neuen Raum zu geben!
Ein Thema, das uns auch in diesem Jahr wieder beschäftigten wird, ist die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, die leider seit Monaten im Bundesministerium für Bildung und Forschung feststeckt. Zum genauen Stand der Dinge habe ich letzte Woche für Campus & Karriere im Deutschlandfunk mit Regina Brinkmann gesprochen. Was in Sachen WissZeitVG im Jahr 2024 passieren muss, ist ebenso bekannt wie offenkundig: Das BMBF muss endlich raus aus seiner Blockadehaltung und mit einer Kombination aus sachgerechter Befristungshöchstquote und 2+4-Modell mit Anschlusszusage eine grundlegende Reform auf den Weg bringen, die die Arbeitsbedingungen in der deutschen Wissenschaft tatsächlich verbessert.
Wissenschaft als Beruf in Deutschland: Kaum Perspektiven, dafür eine Menge unbezahlter Mehrarbeit
Keine Frage: Die beispiellose Massenbefristung in der Wissenschaft macht Deutschland zu einem äußerst unattraktiven Arbeitsumfeld. Dahinter steht allerdings ein noch grundsätzlicheres Problem: Der Unwillen der dafür Zuständigen, für wissenschaftliche Beschäftigte Verantwortung zu übernehmen, indem für sie (wie für Arbeitnehmer_innen in anderen Branchen) faire Arbeitsbedingungen sichergestellt werden. Dieser Unwillen schlägt sich auch in anderen Fragen nieder, darunter die nach dem Verhältnis von Stellenumfang und tatsächlicher Arbeitszeit während der Promotion. Darum soll es heute gehen, denn wir können aus dieser Problematik einiges über die mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung im Wissenschaftssystem lernen — dank #IchBinHanna sind nun allerdings sehr viele kritische Blicke auf diejenigen gerichtet, die sich zu Unrecht daran gewöhnt haben, damit davonzukommen.
Schlechter Rat ist teuer – und den Preis zahlen Promovierende
Vollzeitarbeit auf Teilzeitstellen in der Wissenschaft: Wie kommt es dazu? Mitverantwortlich dafür ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die den Fachkollegien bei der Festlegung des üblicherweise zu beantragenden Stellenumfangs für Promotionsstellen freie Hand lässt (Kritik daran u.a. hier; ich selbst habe die geisteswissenschaftlichen Fachkollegien hier für die Wahl von Teilzeitstellen kritisiert). In ihrem daraus resultierenden Hinweispapier zum Stellenumfang für Promovierende rät die DFG je nach Fach zur Beantragung von Teilzeitstellen in unterschiedlichen Umfängen (neuerdings mit dem Zusatz, es könne auch ein höherer Umfang angemessen sein, allerdings handelt es sich bei den Angaben im Papier um den „üblicherweise bewilligten Beschäftigungsumfang“) und nur für einige wenige Fächer zu Vollzeitstellen. Dabei geht die DFG nicht etwa davon aus, dass in manchen Fächern während der Promotion einfach weniger gearbeitet wird als in anderen — nein: Dahinter steht laut DFG-Website die sogenannte Wettbewerbssituation in den jeweiligen Fächern.
Die zynische Botschaft hinter dieser Formulierung: Wir gehen davon aus, dass der Arbeitsmarkt außerhalb der Wissenschaft Euch so schlechte Angebote macht, liebe Chemiker_innen, Historiker_innen usw., dass wir Euch auch mit Teilzeitstellen abspeisen können. Denn wir rechnen damit, dass Ihr sie mangels aussichtsreicher Alternativen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt dennoch nehmt — auch, wenn allgemein bekannt und statistisch erwiesen ist, dass Ihr darauf in der Regel deutlich mehr arbeiten werdet.
Vom Schleudersitz aus lässt sich unbezahlte Mehrarbeit kaum abwehren
Aber wie kommt es eigentlich dazu? Dass Wissenschaftler_innen regelmäßig mehr arbeiten als vertraglich vereinbart (genaue Zahlen finden sich im BuWiN 2021 auf S. 108), liegt nicht selten daran, dass der Erwartung oder dem Druck vonseiten Vorgesetzter, unbezahlte Mehrarbeit zu leisten, kaum etwas entgegenzusetzen ist, wenn im aktuellen System der Kettenbefristungen die eigene Weiterbeschäftigung ständig auf dem Spiel steht. Für Promovierende wird die Lage zusätzlich dadurch verschärft, dass deren Vorgesetzte in der Regel auch Betreuende und Begutachtende im Promotionsverfahren sind. Wer will schon die eigene Note riskieren? Und nein, nicht alle Vorgesetzten in der Wissenschaft drängen ihre Beschäftigten zu unbezahlter Mehrarbeit oder strafen sie mit schlechten Noten ab, wenn sie einfordern, nur so viel arbeiten zu müssen wie vertraglich festgelegt. Aber unbezahlte Mehrarbeit ist und bleibt an vielen Stellen eine (nicht immer ausgesprochene) Erwartungshaltung — und wird im Übrigen auch dadurch normalisiert, dass viele Vorgesetzte selber bis zum Rande des Burnouts und darüber hinaus Überstunden machen.
Deutschland leistet sich zudem auf Kosten seiner wissenschaftlichen Beschäftigten und der Wissenschaft selbst ein Wissenschaftssystem, in dem der dauerhafte Verbleib extrem unwahrscheinlich ist, was dazu führt, dass die zahlreichen befristet beschäftigten Wissenschaftler_innen unter immensem Druck stehen, immer mehr zu leisten als die anderen, um ihre Minimalchancen auf einen Verbleib im Wissenschaftssystem zumindest etwas zu erhöhen, und sich also ständig gegenseitig zu übertrumpfen. Die Folge: Ein Rattenrennen, das nicht nur reihenweise Verlierer_innen produziert, sondern auch eine Entgrenzung von Arbeitszeiten mit sich bringt.
Wissenschaftliche Arbeitgeber tun, was ihnen erlaubt wird — auch wenn das zulasten ihrer Arbeitnehmer_innen geht
Jetzt könnte man freilich sagen: Selber schuld, liebe Wissenschaftler_innen! Wenn Ihr für die minimale Erhöhung Eurer Karrierechancen Überstunden schiebt, ist das Euer eigenes Problem! Das aber ist ein Klassiker der Verantwortungsverweigerung in der beliebten Variante Individualisierung strukturell erzeugter Probleme. Warum nämlich sollte die Wissenschaft ein Bereich sein, in dem abhängig Beschäftigte gegenüber anderen Branchen einen stark eingeschränkten Arbeitnehmer_innen-Schutz erfahren und selber zusehen müssen, wie sie unter diesen Umständen klarkommen? Auch in der Wissenschaft besteht eine Fürsorgepflicht der Zuständigen gegenüber den Beschäftigten — wer durch das eigene Zutun ermöglicht, dass Teilzeitstellen bei Vollzeitarbeit gängige Praxis sind und bleiben, verletzt diese Pflicht und trägt außerdem dazu bei, dass ein Unterlaufen von Tarifverträgen durch staatliche Arbeitgeber (!) weiterhin möglich und sogar salonfähig bleibt.
Die VolkswagenStiftung hat sich letztes Jahr erfreulich klar gegen Teilzeitstellen für Vollzeitarbeit positioniert. Es ist ein Armutszeugnis, dass die DFG, größter Drittmittelgeber in Deutschland und zu 99% aus Mitteln des Bundes und der Länder finanziert, derweil weiterhin diese unfaire Praxis nicht nur ermöglicht, sondern sogar dazu ermutigt — und das mit Nachahmungseffekten in Antragsverfahren bei anderen Förderinstitutionen, in denen das offizielle DFG-Papier mitunter ebenfalls als Referenz herangezogen wird.
In der Satzung der DFG heißt es: „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft handelt in allen ihren Verfahren wissenschaftsgeleitet.“ Eine gute Gelegenheit, um daran zu erinnern, dass auch diejenigen Disziplinen zum Kanon der Wissenschaften zählen, die mit ihrer Expertise normativ zu Gerechtigkeitsfragen Stellung nehmen — dass die DFG-Verfahren in Sachen Stellenumfang den diesbezüglich einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen genügen, muss nachdrücklich bezweifelt werden.
Auch die Bundesregierung glänzt in dieser Angelegenheit übrigens mit Verantwortungsverweigerung — in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke heißt es, bei den Angaben im Papier der DFG handle es sich nur um Empfehlungen, man könne ja genauso auch Vollzeitstellen vergeben. Dabei gibt es aus guten Gründen Tarifverträge, gesetzliche Bestimmungen über Mindestlohn etc. Und die sind aus ebenso guten Gründen verbindlich. Genauso braucht es auch für Stellenumfänge in der Wissenschaft faire, verbindliche Mindeststandards. Denn, Überraschung: Was man wissenschaftlichen Arbeitgebern zum Nachteil ihrer Arbeitnehmer_innen erlaubt (oder gar empfiehlt), werden sie auch tun — sei es bezüglich Befristung oder Stellenumfängen. Dass sie theoretisch auch Vollzeitstellen vergeben könnten, rechtfertigt diese Erlaubnis genauso wenig wie der Hinweis darauf, dass sie Wissenschaftler_innen unbefristet beschäftigen könnten. Denn dass das zumeist ebenso wenig passiert, ist hinreichend bekannt.
Der Markt regelt?! Ja, nämlich der der Arbeitnehmer_innen!
Aber Wissenschaftler_innen können ja trotzdem einfach Nein sagen — Nein zu unbezahlter Mehrarbeit, und wenn das dann mit einem Ende des Verbleibs im Wissenschaftssystem quittiert wird, ist es eben so! Oder? Sicher. Und je mehr das tun, desto mehr beschädigt das die deutsche Wissenschaft. Denn selbst, wenn einige Zuständige weiterhin an der eigenen Verantwortungsverweigerung festhalten sollten, haben die Zeiten sich geändert: Der Fachkräftemangel ist auch in der Wissenschaft längst angekommen. Fun fact, liebe Zuständige: Die Zeiten der nicht versiegenden Quelle, aus der immer neue Heerscharen von Doktorand_innen entspringen, die zu allem Möglichen bereit sind, nur um beim großen Projekt Wissenschaft ein Weilchen mitmachen zu können, und dafür auch Selbstausbeutung auf Teilzeitstellen in Kauf nehmen, sind inzwischen vorbei. Den Fachkräftemangel durch das Aufrechterhalten von Vollzeitarbeit auf Teilzeitstellen zusätzlich befeuern geht auf Kosten der Zukunft von Forschung und Lehre in Deutschland und damit auch auf die unserer gesamten Gesellschaft. Alle, die zu dieser Praxis beitragen, sollten sich gut überlegen, ob sie das auch im neuen Jahr fortsetzen wollen. Denn eines ist jetzt schon klar: Wer seine Beteiligung daran aufrechterhält, wird damit rechnen müssen, zukünftig immer stärker unter Druck und in der Kritik zu stehen. Und das ist auch gut so.