Welches Risiko? Welcher Wettbewerb? Was Wissenschaft wirklich braucht
In den Diskussionen um Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft kommen sie immer wieder vor: Die Schlagworte „Wettbewerb“ und „Risiko“. Risiko und Wettbewerb werden dabei gern als notwendige Voraussetzungen für Wissenschaft gerahmt, während man sie zugleich auf die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler_innen bezieht. Dahinter steht allerdings ein großes Missverständnis, das auszuräumen mein Vorhaben in der heutigen Newsletter-Ausgabe ist: Wer behauptet, Wissenschaft setze Wettbewerb und Risiko voraus, um damit prekäre Arbeitsbedingungen zu rechtfertigen, vermischt nämlich zwei Ebenen — die Ebene wissenschaftlicher Beschäftigung mitsamt ihren Rahmenbedingungen einerseits und die inhaltliche sowie methodische Ebene der kollektiven Unternehmung Wissenschaft andererseits. Während Wettbewerb und Risiko auf inhaltlicher und methodischer Ebene durchaus förderlich sein können, ja, für ein Fortkommen der Wissenschaft unter Umständen sogar vorausgesetzt sind, ist das Vorhandensein dieser Faktoren auf der Ebene der Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Beschäftigung überaus schädlich — und das nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für die Wissenschaft selbst. Schauen wir uns die beiden Ebenen einmal genauer an, dann wird deutlich, dass faire Arbeitsbedingungen mit verlässlichen beruflichen Perspektiven sogar eine Voraussetzung für die wissenschaftlich produktiven Varianten von Risiko und Wettbewerb darstellen.
Gut für Wissenschaft: Inhaltliche und methodische Risikobereitschaft sowie ein Wettbewerb der Argumente und Theorien
Um gemeinsam zu neuen Erkenntnissen gelangen, sollten Wissenschaftler_innen tatsächlich in einem bestimmten Sinne auf Wettbewerb und Risiko setzen — nämlich auf der Ebene der Methoden und der Inhalte. Originelle Ideen, neue Perspektiven und Einsichten setzen voraus, inhaltlich und/oder methodisch etwas anders zu machen als bisher. Wer inhaltlich und methodisch stets Altbekanntes und Bewährtes wiederholt und die Risiken neuer Ansätze scheut, dürfte eher selten etwas Neuartiges hervorbringen. Und ja, auch Wettbewerb kann Wissenschaft durchaus dienlich sein — nämlich dann, wenn Argumente und Theorien miteinander in Konkurrenz treten, damit sich die Überzeugendsten durchsetzen. In diesem Sinne können Risiko und Wettbewerb in der Wissenschaft also sehr wohl produktiv wirken; sie mögen teils sogar unabdingbar sein für wissenschaftlichen Fortschritt und Erkenntnisgewinn.
Schlecht für Wissenschaft: Existenzielle Risiken und die eigene berufliche Zukunft als Wettbewerbseinsatz
Anders sieht es aus, wenn Risiko und Wettbewerb auf der individuellen beruflichen Ebene wirksam sind, in Form des Hyper-Wettbewerbs um wenige Stellen und des persönlichen Risikos, das die teils jahrzehntelange prekäre Beschäftigung mit geringen Chancen auf einen dauerhaften Verbleib in der Wissenschaft mit sich bringt. Dass diese Formen des Wettbewerbs und des Risikos der Wissenschaft schaden, hat eine Reihe von Gründen. Da ist zunächst einmal die nicht tolerierbare Exklusion von Personen(gruppen): Solange die individuelle berufliche Existenz betreffende Formen von Risiko und Wettbewerb das Wissenschaftssystem durchdringen, werden Personen, die nicht über die persönlichen Voraussetzungen verfügen, dies auszuhalten und abzufedern, systematisch ausgeschlossen. Das widerspricht nicht nur Grundsätzen der Teilhabegerechtigkeit — es ist auch alles andere als förderlich für die Wissenschaft: An der sogenannten Bestenauslese, in deren Rahmen sich vermeintlich die besten Wissenschaftler_innen im Wettbewerb um Stellen, Forschungsmittel, Preise etc. durchsetzen, können zahlreiche exzellente (potentielle) Wissenschaftler_innen gar nicht erst teilnehmen. Oder ihnen wird die Teilnahme am Wettbewerb zusätzlich erschwert, weil sie etwa nicht über die nötigen finanziellen oder gesundheitlichen Voraussetzungen verfügen, um sich jahrelang mit Kettenverträgen, Mobilitätszwängen und berechtigten Zukunftsängsten zu arrangieren. Wissenschaft profitiert von einer Vielfalt der Stimmen und Perspektiven — solange berufliches Risiko und die eigene berufliche Existenz als Wettbewerbseinsatz in Wissenschaft als Beruf eingepreist sind, drohen zahlreiche wichtige Stimmen zu verstummen oder gar nicht erst zu erklingen.
Aber auch für Personen, die all diesen Hürden zum Trotz Wissenschaft als Beruf ergreifen und ausüben, haben Wettbewerb und Risiko auf der persönlichen Ebene gravierende Nachteile, die sich zugleich negativ auf die Wissenschaft auswirken. Denn ein Wettbewerb, in dem beständig die eigene berufliche Existenz auf dem Spiel steht, sowie die zahlreichen Risiken, die mit prekärer Beschäftigung in der Wissenschaft verbunden sind, erzeugen gravierende Fehlanreize — Fehlanreize, die die oben skizzierten produktiven Formen von Wettbewerb und Risiko vielfach sogar verhindern. Wenn etwa am Gelingen eines Projekts die berufliche Zukunft in der Wissenschaft hängt — zum Beispiel ein neuer Arbeitsvertrag oder eine Folgefinanzierung für ein Projekt, das die eigene Anstellung sichern soll —, dann liegt es nahe, inhaltlich und methodisch möglichst auf Sicherheit zu setzen: Das Scheitern eines Projekts gilt es schließlich zu vermeiden, wenn das zugleich das Ende der Erwerbsarbeit im gewählten, erlernten Beruf bedeuten kann. Wer hier mit persönlichen beruflichen Risiken konfrontiert ist, ist also gut beraten, inhaltliche und methodische Risiken eher zu vermeiden — mit entsprechenden Nachteilen für die Wissenschaft.
Auch ein Wettbewerb, bei dem die eigene berufliche Existenz auf dem Spiel steht, produziert Fehlanreize. Wer ständig andere überflügeln und im Rattenrennen überholen muss, um Wissenschaft als Beruf weiterhin ausüben zu können, läuft Gefahr, sich Tricks zu bedienen, um mithalten zu können. Dazu zählt etwa die Salami-Taktik beim Publizieren: Aus einem Vorhaben werden möglichst viele Publikationen generiert, damit die Publikationsliste weiter anwächst, auch, wenn das in der Sache gar nicht gerechtfertigt ist. Aber auch das Zurechtbiegen bis hin zum Fälschen von Forschungsergebnissen kann ein Resultat des hohen Erfolgsdrucks sein, der mit dem Wettbewerb um die berufliche Existenz verbunden ist — was derartige Tätigkeiten freilich keinesfalls rechtfertigt. Aber wir sollten uns schon fragen, ob wir wirklich ein Wissenschaftssystem wollen, das solche Verstöße gegen die Standards guter wissenschaftlicher Praxis begünstigt und teils sogar provoziert. Sollten wir nicht lieber Formen des Wettbewerbs fördern, in denen das Einhalten dieser Standards keine Wettbewerbsnachteile mit sich bringt?
Nun fallen Argumente und Theorien natürlich nicht vom Himmel — sie werden von Wissenschaftler_innen ausgearbeitet. Ist also der inhaltliche Wettbewerb nicht am Ende doch ein Wettbewerb der Wissenschaftler_innen untereinander? Das mag in gewisser Weise zutreffen — insofern nämlich, als Wissenschaftler_innen und ihre Theorien eng miteinander verbunden sind, auch im Rahmen von Reputationsmechanismen und der Anerkennung von Leistungen. Aber selbst, wenn nicht allein die wissenschaftlichen Argumente und Theorien miteinander konkurrieren, sondern letztlich auch die Wissenschaftler_innen, die sie hervorbringen, braucht es dazu sicherlich keinen Wettbewerb, in dem die Verlierer_innen um ihre berufliche Zukunft bangen müssen — im Gegenteil.
Produktive Formen von Risiko und Wettbewerb gibt es nur unter der Voraussetzung fairer Arbeitsbedingungen mit langfristigen Perspektiven
Wer ein Loblieb auf Wettbewerb und Risiko in der Wissenschaft singen möchte, ist daher gut beraten, die beiden Ebenen auseinanderzuhalten – und für faire Arbeitsbedingungen mit langfristigen Perspektiven einzustehen. Denn ohne entsprechende Bedingungen werden produktive Formen von Risiko und Wettbewerb systematisch ausgebremst — und das ist weder aus Sicht der Wissenschaft noch aus Sicht der Wissenschaftler_innen wünschenswert.
Und was gibt’s Neues, #IchBinHanna?
Passend zum Thema langfristige Perspektiven gibt es erfreuliche Neuigkeiten für #IchBinHanna — ein wunderbarer Anlass, diese kleine Newsletter-Rubrik wiederzubeleben: In der vergangenen Woche hat der Haushaltsausschuss des Bundestages dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) aufgetragen, gemeinsam mit den Ländern ein Konzept für mehr Dauerstellen im deutschen Wissenschaftssystem vorzulegen. Details dazu sind in Jan-Martin Wiardas Blog nachzulesen. Ein weiterer vielversprechender Schritt, um produktive Formen von Risiko und Wettbewerb zu befördern — indem deren schädliche Formen, die die berufliche Existenz von Wissenschaftler_innen betreffen, eingedämmt werden!