Wissenschaft auf X: Jetzt aussteigen oder für immer alt aussehen
Wissenschaft kommuniziert auch digital — und das ist zunächst einmal wichtig und gut so: Im digitalen Raum lässt sich fraglos eine Menge erreichen — sowohl, was die Zahl der Rezipient_innen betrifft, als auch im Hinblick auf den Impact der Inhalte. Gerade deshalb aber stellt sich auch die Frage, wie und wo Wissenschaft online kommunizieren sollte, will sie ihrer Verantwortung gerecht werden. Denn anders als Wirtschaftsunternehmen und Influencer_innen sollte es Wissenschaftsakteur_innen nicht um reine Werbung für die eigene „Marke“ gehen (auch, wenn das manche in der Wissenschaft fälschlich so verstehen). Nein, die kommunizierende Wissenschaft hat einen anderen Auftrag: Sie muss faktenbasierte, wissenschaftlich fundierte Aufklärung bereitstellen und sich damit klar abgrenzen von digital weit verbreiteter (und dort allzu leicht verbreitbarer) Desinformation, Hate Speech und Demokratiefeindlichkeit (die nicht nur oft mit Wissenschaftsfeindlichkeit einhergeht, sondern Wissenschaft auch ihrerseits bedroht). Das kann sie nicht zuletzt dadurch leisten, dass sie diese problematischen Inhalte mit hochwertigem wissenschaftlichem Content konfrontiert. Zugleich aber gilt: Digitale Räume, in denen die Wissenschaft spricht, erfahren schon allein durch ihre Anwesenheit eine Aufwertung. Denn Wissenschaft signalisiert damit zweierlei. Erstens: Hier gibt es hochwertigen, wissenschaftlich fundierten Content! Aber auch zweitens: Es ist in Ordnung, hier zu sein und zu kommunizieren — denn wir, die wir mit unserem Namen für die Wissenschaft mitsamt der ihr eigenen Werte stehen, sind es ja auch! All das wird im Hinblick auf X aktuell immer mehr zum Problem: Die längst erkennbar aus dem Ruder gelaufene Plattform von Elon Musk wird durch die dort weiterhin stattfindenden Aktivitäten wissenschaftlicher Institutionen stets aufs Neue legitimiert — während die Wissenschaft droht, den Absprung von X zu verpassen, ehe es zu spät ist. Durch ihre X-Nutzung lassen Wissenschaftsinstitutionen die mithilfe von Algorithmen zusätzlich angefachten Flächenbrände aus Fake News, Verschwörungserzählungen, Hass und Menschenfeindlichkeit weiter lodern und geben ihnen sogar noch Zunder, statt ihnen durch einen souveränen X-Exit endlich den Sauerstoff zu entziehen. Warum ist das so? Warum können Gegenargumente — „die Reichweite!“, „Wissenschaft muss raus aus der Komfortzone!“, „Wir können die Plattform nicht den problematischen Playern überlassen!“ — längst nicht mehr überzeugen? Und warum drängt die Zeit für den Ausstieg? Darum geht’s im heutigen Newsletter.
„Aber die Reichweite!!“ — Welche Reichweite? Macht Euch mal ehrlich!
Eines der Argumente, die auch uns #IchBinHanna-Initiator_innen zunächst auf X gehalten haben (bis wir im Februar 2024 ausgestiegen sind), ist das der Reichweite, die verloren gehe, wenn man nicht mehr auf X unterwegs sei. In den vergangenen Wochen ist zu diesem Argument einiges geschrieben worden, so hat etwa Christian Stöcker im Spiegel darauf hingewiesen, dass die auf X tatsächlich zu erzielende Reichweite gerne äußerst großzügig überschätzt wird:
„Die Plattform ist hierzulande ein Nischenphänomen […]. Laut der jüngsten Medienstudie im Auftrag von ARD und ZDF waren 2024 drei Prozent der Deutschen täglich und sieben Prozent der Deutschen wöchentlich bei X […].“
Laut der zitierten Medienstudie sind die Menschen in Deutschland auf allerlei Plattformen aktiv und äußerst umtriebig; X spielt dabei aber eine vergleichsweise mickrige Rolle. Zudem, so Stöcker, steckten hinter einem beachtlichen Teil der X-Profile keine echten Menschen, sondern es handele sich um Bots und Fake-Profile: „Allein Russland betreibt nachweislich Zehntausende, vermutlich weit mehr — Elon Musk tut wenig bis nichts dagegen. Er prahlt lieber mit vermeintlichem Wachstum.“ Hinzu kommt, dass Musk die Algorithmen so hat verändern lassen, dass die Reichweiten, die vor seiner Twitter-Übernahme drin waren, so inzwischen längst nicht mehr möglich sind (das haben wir übrigens selbst festgestellt).
Es sind also gemessen an der deutschen Gesamtbevölkerung ohnehin nur sehr wenige Menschen auf X aktiv. Wie viele Profile es auf der Plattform insgesamt gibt und wie viele Follower_innen die einzelnen Accounts haben, ist insgesamt wenig aussagekräftig, wenn niemand weiß, wie viele davon Bots sind. Obendrein kann man faktisch wenig erreichen, wenn etwa Posts mit Links in ihrer Reichweite beschränkt werden und Wissenschafts-Accounts notorisch gegen die Blauhaken-Accounts verlieren, die für mehr Reichweite einfach draufzahlen.
Wem das jetzt alles noch zu theoretisch ist: Ich empfehle, einen Blick auf die Fakten zu werfen und zu schauen, wie viele Leute die Posts von Wissenschaftseinrichtungen auf X tatsächlich sehen und damit interagieren. Ich habe mir dazu am vergangenen Sonntag jeweils die fünf aktuellsten eigenen Posts (d.h. keine Reposts) auf folgenden X-Accounts angesehen:
Gemessen an der Zahl der Follower_innen sind Views und Engagement Rate also winzig. Die Views des meistgesehenen Posts der HU Berlin etwa entsprechen 1,49% der HU-Follower_innen. Die MPG erzielt zwar insgesamt höhere Zahlen, aber hat deutlich mehr Follower_innen, womit das Follower_innen/View-Verhältnis auch hier zu wünschen übriglässt: Die Views des meistgesehenen Posts entsprechen 4,66% der Follower_innen. (Die Formulierung mit „entsprechen“ verdankt sich der Tatsache, dass Views auch von Nicht-Follower_innen kommen können.) Und: Darüber, wer die Posts überhaupt bewusst zur Kenntnis genommen hat, treffen die View-Zahlen noch nicht einmal eine Aussage. Es zählt etwa auch als ein View, wenn ein Post bei den Nutzer_innen kurz in der Timeline aufblitzt, aber direkt weitergescrollt wird, ohne im Detail wahrgenommen worden zu sein. Aber wer nimmt denn dann überhaupt zur Kenntnis, was die Wissenschaftsinstitutionen auf X posten? Engagement Rates sind hier ein verlässlicherer Indikator, denn wer mit Inhalten interagiert, hat sie vermutlich meist mehr oder weniger eingehend zur Kenntnis genommen. Nur: die Interaktionszahlen sind noch sehr viel ernüchternder als die der Views. Like-, Repost- und Kommentar-Zahlen spielen sich bei allen fünf Accounts deutlich unter 1% der Follower_innen-Zahlen ab.
Liebe Wissenschaftseinrichtungen: Ihr habt zwar teils recht beachtliche Follower_innen-Zahlen auf X, aber Eure Inhalte sieht kaum jemand — und die wenigen, die sie sehen, interagieren damit so gut wie überhaupt nicht. So leid es mir tut: Das Argument, man müsse wegen der Reichweite auf X bleiben, ist kein bisschen überzeugend.
„Wissenschaft muss auch außerhalb der Komfortzone kommunizieren“, schallt es aus der Komfortzone
Neben der Reichweite gibt es noch ein anderes Argument, mit dem die Wissenschaft zum Verbleib auf X gemahnt wird: „Wir werden als Wissenschaft […] auch auf Plattformen jenseits eigener Komfortzonen unterwegs sein müssen“, wurde der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Walter Rosenthal, vergangene Woche im DLF zitiert. Meine Suche nach einem aktiven X-Account von Rosenthal höchstselbst lief gleichwohl ins Leere. Sollte Herr Rosenthal etwa gar nicht wissen, wovon er da spricht? Die Wissenschaftscommunity, einschließlich der Kommunikationsabteilungen, die in Sachen Social-Media-Kommunikation ausgebildete Profis und Expert_innen sind: wir alle werden hier über das Kommunizieren außerhalb von Komfortzonen belehrt von jemandem, der höchstwahrscheinlich nicht im Entferntesten ahnt, wie es dort eigentlich aussieht. Und — das werden diejenigen, die in den letzten Monaten auf X unterwegs waren und sind, sicher bestätigen können: Es sieht dort ausgesprochen hässlich aus. Beschimpfungen, Angriffe, blanker Hass und Wissenschaftsfeindlichkeit mischen sich mit Misogynie, Rassismus und anderen Formen widerwärtiger gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wer meint, dass ich übertreibe, sollte auch hier wieder einen Blick auf die Plattform werfen. Die Journalistin Ingrid Brodnig, die gemeinsam mit vielen anderen österreichischen Journalist_innen im Rahmen des kollektiven #eXit aus X ausstieg, berichtet von ihren Erfahrungen:
Und nun soll die Wissenschaft also ihre Komfortzone verlassen, um — ja, was eigentlich, Herr Rosenthal? Um sich täglich aufs Übelste anfeinden und durchbeleidigen zu lassen? Oder um dabei zuzusehen, wie andere täglich aufs Übelste angefeindet und durchbeleidigt werden? Nicht nur ist es fraglich, welchen Sinn es haben soll, Wissenschaftler_innen und Kommunikator_innen diesem kommunikativen Umfeld auszusetzen: Leute, die eine_n mit Ausdrücken wie den von Brodnig erwähnten bedenken, gehören erfahrungsgemäß nicht zu denjenigen, die an einem auch nur annähernd konstruktiven Austausch mit Wissenschaftler_innen interessiert sind (wer schon einmal intensiver mit Social Media zu tun hatte, weiß das). Die Forderung an Wissenschaftler_innen und Kommunikator_innen, sich dem weiter auszusetzen, ist allein schon unter Gesichtspunkten des Arbeitsschutzes höchst bedenklich — zumal, wenn die Beschimpfungen in Bedrohungen übergehen, die für Wissenschaftler_innen und Kommunikator_innen besonders besorgniserregend sind, finden sich doch ihre Büroadressen regelmäßig im Internet. Es wäre interessant zu wissen, was der HRK-Präsident konkret zum Schutz dieser Personen vor belastenden und bedrohlichen Interaktionen zu tun gedenkt (der SciComm-Support, so großartig er ist, wird dieses Problem kaum im erforderlichen Umfang lösen können). Außerdem wüsste man gern, wie lange Herr Rosenthal es wohl selbst auf der Plattform X aushielte — und ob er im Lichte der dort gewonnenen Eindrücke weiterhin an seiner Aufforderung festhalten würde.
„Wir können die Plattform nicht den problematischen Playern überlassen“ – doch, denn sonst sind wir nichts als deren Spielball
Man muss es so klar sagen: Das Businessmodell rechtspopulistischer, verschwörungserzählender und menschenverachtender X-Accounts setzt voraus, dass es auf der Plattform auch noch anderes gibt als ihren ätzenden Content. Zum einen aus dem oben bereits genannten Grund — weil das den noch verbliebenen Nutzer_innen, die auf der Plattform auf Informationssuche sind, vermittelt: Hier gibt es hochwertige Inhalte. Somit erreichen auch die problematischen Inhalte ein großes Publikum, zur Freude ihrer Produzent_innen. Zugleich erfährt der ganze Schrott und Hass, der X inzwischen überschwemmt, dadurch eine Normalisierung und die Plattform als solche eine Legitimation („so wild kann es hier ja nicht sein, die Wissenschaft ist ja noch auf X!“). Zum anderen aber brauchen die destruktiven X-Accounts etwas auf X, auf dessen Zerstörung sie zielen, gegen das sie sein, von dem sie sich abgrenzen können. Das sollten alle bedenken, die fordern, die Wissenschaft müsse ausgerechnet hier dem problematischen Content etwas entgegensetzen: Man spielt dadurch nur das Spiel mit und folgt genau dem Skript derer, die man in die Schranken zu weisen vermeint. Was die Wissenschaft anzubieten hat, ist willkommenes Futter, um Hass, Fake News und rechtspopulistische Inhalte auf der Plattform großzumachen. Wissenschaftliche Inhalte sind genau die Folie, vor deren Hintergrund hochproblematische Gegenerzählungen überhaupt erst an Kontur gewinnen. Auch das Prinzip rage bait — dass man zu Provokationszwecken Empörendes postet — funktioniert nur, wenn noch jemand über das Stöckchen springt, das da hingehalten wird. Sind keine Leute mehr da, die sich empören könnten, bricht das Ganze in sich zusammen.
Zieht die Wissenschaft sich also aus X zurück, wird die Plattform endlich noch deutlicher als das erkennbar, was sie schon längst ist und was durch ihren Inhaber munter unterstützt wird: eine Hass- und Fake-News-Schleuder, auf der Demokratiefeindlichkeit floriert. Zugleich wird denen, die sich auf X an hochwertigen Inhalten abarbeiten, um ihren hochproblematischen Content zu verbreiten, effektiv der Boden entzogen. Das haben in der Zwischenzeit längst eine Menge von Akteur_innen und Institutionen verstanden. Zuletzt hat sich etwa der Deutsche Journalisten-Verband von X zurückgezogen. Auch einzelne deutsche Hochschulen und Wissenschaftsinstitutionen sind bereits bei X ausgestiegen, etwa die FU Berlin und die Uni Ulm, ebenso wie die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Ein großer Teil der Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen postet aber schlafwandlerisch weiter auf X, als sei nichts gewesen. Es wird Zeit, dass die deutsche Wissenschaft endlich ihre kollektive Handlungsfähigkeit unter Beweis stellt, indem sie mit einer gemeinsamen Aktion bei X aussteigt. Ein Signal, das Eindruck machen würde — auch über Deutschland hinaus. Wird dieser Moment verpasst, werden die deutschen Wissenschaftsinstitutionen aller Voraussicht nach früher oder später auf die eine oder andere Weise bei X untergehen — weil sie mit ihren Inhalten immer weniger erreichen oder weil sie eine nach der anderen ihre Aktivitäten dort zurückfahren oder ganz einstellen. Beides wird niemand mitbekommen. Die Chance, das Momentum zu nutzen und damit zugleich ein starkes Statement abzugeben, das die deutsche Wissenschaft als beherzt agierende Gemeinschaft zeigt, die gegen Wissenschafts-, Demokratie- und Menschenfeindlichkeit einsteht (und nicht als unkoordinierten Haufen politisch indifferenter Einzelinstitutionen), wäre endgültig vertan. Hoffen wir also, dass die deutsche Wissenschaft die Kurve bekommt: Noch ist es nicht zu spät!