Wissenschaft jetzt, Leben später
Ein Leben ohne Wissenschaft ist nicht nur denkbar, sondern für die allermeisten von uns auch sehr wahrscheinlich: Nach wie vor sind unbefristete Perspektiven hierzulande rar. Wer sich in Deutschland für Wissenschaft als Beruf entscheidet, muss das weiterhin in dem Bewusstsein tun, dass früher oder später eine berufliche Umorientierung ansteht, wenn sämtliche befristeten Arbeitsverhältnisse einmal ausgelaufen sind, die Höchstbefristungsdauer des WissZeitVG erreicht wurde und sich auch keine Übergangslösungen mehr finden lassen. Ich selbst habe seit April 2022 eine vergleichsweise lange Perspektive: Ich bin Juniorprofessorin, und wenn mit der Zwischenevaluation alles klappt, kann ich ganze sechs Jahre an ein und derselben Uni arbeiten. Das ist gemessen an der Situation anderer (und meiner eigenen vor Antritt der Juniorprofessur) fast schon sowas wie Luxus — gemessen am allgemeinen Arbeitsmarkt, auf dem unbefristete Arbeitsverhältnisse die Regel sind, hingegen nicht. Gleichwohl dürfte auch für mich der ‚Ausflug‘ in die Wissenschaft früher oder später enden — in meinem Fall hat er dann voraussichtlich 14 Jahre gedauert (wenn man vom Beginn meiner Promotionsstelle bis zum Ende meiner Juniorprofessur rechnet).
Dieses Jahr werde ich 40. Es ist zwar noch ein Weilchen hin, aber zum Nachdenken bringt mich das Überschreiten der Linie hin zu einem neuen Lebensjahrzehnt schon jetzt. Denn: Wie gehe ich eigentlich heute damit um, dass das Ende meiner wissenschaftlichen Karriere ebenso wahrscheinlich wie absehbar ist? Um ehrlich zu sein, dominiert hier inzwischen nicht mehr der Frust und auch nicht die vorauseilende Trauer darüber, etwas, das mir sehr am Herzen liegt — die wissenschaftliche Arbeit in meinem Fach — zu verlieren. Lange Zeit hat mich diese Aussicht belastet. Etwa, als ich während der Promotion arbeitslos war und dachte, dass es das jetzt gewesen sei mit mir und der Wissenschaft — was Episoden nach sich zog wie eine Fahrt im Regionalzug durchs Ruhrgebiet, in der mir die Tränen wie Wasserfälle übers Gesicht liefen. Da war so viel Schmerz darüber, diese Wissenschaft, die mir so immens viel bedeutet, vermutlich nicht weitermachen zu können, so viel Verzweiflung, dass es schwer auszuhalten war. Und wer wäre ich überhaupt, wenn ich keine im akademischen Betrieb arbeitende Philosophin mehr bin? Allein die Vorstellung fühlte sich schwer nach Identitätskrise an. Und heute? Heute ist das anders. Klar, es treibt mich weiterhin um, etwas hinter mir zu lassen, das über ein Jahrzehnt mein Leben bestimmt, ja, dominiert hat — im Guten wie im Schlechten. Aber wenn ich an das Leben ohne Wissenschaft denke, dann spüre ich nun, mit fast 40, die Vorahnung einer tiefen Erleichterung. Warum? Darum geht es im heutigen Newsletter.
Aufschieben als Lebensgefühl
Wer in der Wissenschaft tätig ist, kennt es vermutlich, das innere Verschieben wichtiger, schöner, erwünschter Dinge auf später: Wenn die Dissertation erst fertig ist, dann gönne ich mir endlich die lang ersehnte und dringend benötigte Auszeit. Na gut, fertig ist sie jetzt, ich habe eingereicht, aber verteidigen muss ich sie ja noch und das ist wichtig, weil auch daran die Note hängt — ich schiebe den Urlaub also noch etwas hinaus, ich sage die Familienfeier ab, den Ausflug mit Freund_innen, das verlängerte Wochenende mit der, dem oder den Liebsten. Okay, ich habe verteidigt, aber die Publikation steht noch aus, ohne kann ich den Titel nicht tragen und außerdem läuft die Zeit: In der Promotionsordnung steht, wenn ich nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums veröffentliche, wird die Promotionsleistung aberkannt. Gut publizieren ist eminent wichtig für meine Karriere. Freizeit, Ausruhen, ach was: das Leben, es muss warten!
Liebe Promovierende, die Ihr das lest: Ich habe Anfang 2017 eingereicht und einige Monate später verteidigt, erschienen ist meine Dissertation 2022. Bei jeder der eben skizzierten Etappen dachte ich: Ist die geschafft, wird es besser, weniger anstrengend, weniger zermürbend, der Druck wird abfallen, es wird sich endlich eine Tür öffnen im stressigen Alltag und den Blick freigeben auf die schönen Dinge im Leben, und ich muss dann nur hindurchschreiten. Pustekuchen. Das geht immer so weiter: Ist die Promotion geschafft, warten Antragsvorhaben, Aufsätze, andere Buchprojekte, vielleicht eine Habilitation. Es kehrt niemals Ruhe ein. Wer schöne Dinge ständig aufschiebt — noch diese stressige Woche, diesen fordernden Monat, dieses schlimme Jahr überstehen, dann wird’s bestimmt besser! — wird aller Voraussicht nach eine ganze Menge schöner Dinge verpassen. Und viele Gelegenheiten kommen leider nicht zurück (auch darüber habe ich in diesem Newsletter schon geschrieben).
Was sich daraus lernen lässt: Work-Life-Balance sollte keine leere Phrase sein, sondern gelebte Praxis, auch in der Wissenschaft. Das Schöne zu opfern, indem es auf eine unbestimmte Zukunft verschoben wird, die dann doch nie eintritt: das ist es nicht wert. Die ohnehin geringen Chancen, längerfristig in der Wissenschaft arbeiten zu können, werden sich allenfalls minimalst erhöhen, wenn wir ständig Wissenschaft priorisieren und alles andere hintanstellen. Das sage ich als eine, die an der Gewissheit, Wissenschaft nicht länger beruflich betreiben zu können, inzwischen relativ nah dran ist. Und was macht sie mit mir, diese Gewissheit, abgesehen davon, dass ich längst nicht mehr bereit bin, meiner wissenschaftlichen Arbeit alles andere unterzuordnen? Sie lässt mich innerlich aufatmen. Denn ich ahne: Wenn ich aus dem Hamsterrad aussteige — und sei es erzwungenermaßen —, dann kann ich endlich so vieles tun, was ich schon längst tun wollte.
Leben in der Wissenschaft: ein Provisorium
In meinem akademischen Leben habe ich in Münster, Bielefeld, Düsseldorf und Stuttgart gearbeitet — zu den letzten drei Arbeitsorten bin ich gependelt und tue es im Falle von Stuttgart immer noch. Pendeln mit mehreren Übernachtungen am Arbeitsort während der Vorlesungszeit bedeutet, dass viele Dinge, die für andere selbstverständlich sind, kaum oder gar nicht gehen. Da ist mein Wunsch nach einem Haustier. Auf dem Dorf wecke ich selten Verwunderung, in Großstädten schon eher, wenn ich bei allseitigem Einvernehmen die Hunde anderer Leute streichle — ich habe nun mal keinen eigenen, leider. Ich mag Hunde (und Katzen auch und Tiere überhaupt) und wünsche mir, seit ich ein Kind bin, mein Leben mit einem zu teilen. Aber wer hunderte Kilometer mit der Bahn pendelt und am Arbeitsort in einem Schuhkarton wohnt (angesichts der Stuttgarter Mietpreise habe ich damit noch Glück gehabt), kann sich diesen Traum abschminken.
Genauso wie ein funktionierendes Privat- und Sozialleben. Ich habe in diesem Newsletter bereits darüber geschrieben, dass Wissenschaft einsam macht. Da die Arbeitsorte ständig wechseln und Pendeln so üblich ist, ist es extrem herausfordernd, soziale Kontakte beizubehalten und zu pflegen. Das hängt auch damit zusammen, dass private Aktivitäten in das Korsett des unsteten Pendelrhythmus geschnürt werden müssen. Mindestens drei, oft mehr Tage verbringe ich während der Vorlesungszeit in Stuttgart. Es lässt sich kaum mit Vorlauf absehen und planen, wie viele Tage es in einer Woche jeweils sein werden und welche genau (auch das ein Grund, warum ich eine BahnCard 100 habe). In der vorlesungsfreien Zeit tausche ich den Stuttgarter Schuhkarton dann gegen meine eigentliche Wohnung, mein Zuhause, und arbeite von dort aus. Ich habe jahrelang Musik gemacht, in verschiedenen Bands gesungen, ganz früher auch im Chor. Würde ich wahnsinnig gern wieder tun. Aber ich kann aktuell kaum verlässlich proben, auch, weil die zwei Bahnfahrtage pro Woche in der Vorlesungszeit keine belastbare Terminplanung erlauben. Seit ich Ende März 2024 mit dem Laufen begonnen habe, wäre ich gern Mitglied in einem Laufclub oder Laufverein. In Stuttgart nach sowas zu suchen, bringt allerdings wenig, da die Stuttgart-Tage übervoll sind, mit mindestens einem Abendtermin pro Woche, und ich in der vorlesungsfreien Zeit nicht vor Ort bin. Und ich gebe gern zu, dass das alles auch eine Frage der Kraft ist. Wenn ich am Ende einer Pendelwoche wieder zu Hause im Münsterland ankomme, bin ich nicht selten einfach sehr erschöpft. Da fehlt dann die Energie, um Leute zu treffen und Hobbies nachzugehen.
Kurz: Ich schiebe alle möglichen Wünsche, die ich für mein Leben habe, seit gut einem Jahrzehnt auf. Manche dieser Wünsche begleiten mich seit Kindheitstagen. Und ich könnte diesen Text ohne Schwierigkeiten auf die zehnfache Länge bringen, würde ich darin noch weitere (auch: privatere) Wünsche ergänzen.
Ich möchte dabei auch den Wunsch nicht unerwähnt lassen, endlich anzukommen. An einem Ort, an dem ich bleiben kann. Mir ein Zuhause zu bauen, das nicht unter Vorbehalt steht. Das erste Jahr im Stuttgarter Schuhkarton habe ich ohne Topf und Pfanne bestritten: Ich dachte, es lohnt sich eh nicht, sowas zu kaufen, zumal ich ja vielleicht auch bald wieder von dort weggehe (es waren Zeiten, zu denen ich mich viel bewarb und mehrfach vorgesungen habe). Solche Geschichten habe ich schon oft von Kolleg_innen gehört und gelesen: Geschichten von nackten Glühbirnen an Zimmerdecken, provisorischen Möblierungen, ja: einem provisorischen Leben.
Das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite? Auf der Seite jenseits perspektivloser Kettenbefristungen bestimmt!
Wenn ich an meine Zeit nach der Wissenschaft denke, dann sehe ich deshalb inzwischen nicht mehr primär das, was ich verlieren werde. Ich sehe das, was ich gewinne. Den Ausstieg aus einem Hamsterrad, das meine ganze Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch nimmt und in dem ich mich dennoch nie vom Fleck bewege, egal, wie emsig und schnell ich darin unterwegs bin. Ich sehe, dass sich Möglichkeitsräume eröffnen, deren Türen durch Pendelei, Arbeitspensum und berufliche Unsicherheit seit Jahren verschlossen sind.
Nun will ich nicht verhehlen, dass die weltpolitische Lage auch meine Zuversicht hinsichtlich der Zukunft niederzudrücken droht. Gerade deshalb aber möchte ich das Leben, das ich mir wünsche und das viele andere in meinem Alter völlig selbstverständlich führen, nicht weiter aufschieben. Es gibt keine Garantien für die Rahmenbedingungen unseres Zusammenseins, wir müssen sie verteidigen, auch das braucht Energie und Ressourcen. Und die speisen sich nun mal nicht aus aufgeschobenen Wünschen und Träumen, sondern aus einem Leben, das auch erfüllend ist, und zwar, weil man es so selbstbestimmt wie nur möglich gestaltet.
Und wer jetzt einwendet, dass ich das Gras auf der Seite jenseits der Wissenschaft viel grüner male, als es ist: Mir ist bewusst, dass mein jetziges Leben auch einige Vorteile hat. Aber: Die gilt es immer abzuwägen gegen die berufliche Unsicherheit, die dieses Leben prägt. Ich kenne einige Menschen außerhalb der Wissenschaft, die so manchen dieser Vorteile vielleicht nicht haben, dafür aber viele andere. Allen voran, mit fast 40 nicht immer noch in der Warteschleife festzustecken, in der Hoffnung, irgendwann das Leben führen zu können, das man führen will. Deshalb habe ich auch keine Bauchschmerzen mehr und weine meiner sogenannten wissenschaftlichen Karriere keine Träne nach, wenn ich daran denke, dass es in wenigen Jahren heißen wird: Wissenschaft war mal — jetzt kommt das Leben.