Die internationale Wissenschaftscommunity schaut dieser Tage besonders aufmerksam auf das deutsche Wissenschaftssystem. Was ist geschehen? Wird aus den Fantasien mancher, Forscher_innen aus den USA abzuwerben, nun tatsächlich Wirklichkeit? Nun, die Gründe für die gesteigerte Aufmerksamkeit liegen etwas anders. Tatsächlich bringt es der Wissenschaftsstandort Deutschland gerade durch einen Machtmissbrauchs-Skandal zu zweifelhafter Berühmtheit, und zwar in einer seiner Vorzeige-Einrichtungen: der Max-Planck-Gesellschaft. In einer ebenso eindrücklichen wie bedrückenden Dokumentation, die wir dem Investigativ-Team der Deutschen Welle in Zusammenarbeit mit dem SPIEGEL verdanken, kommt mit aller Deutlichkeit ans Licht, wie das deutsche Wissenschaftssystem Machtmissbrauch ermöglicht — vor allem durch das gigantische Machtgefälle, das Kettenbefristungen erzeugen. Die englische Version der Doku hat, während ich diese Zeilen schreibe, bereits mehr als 409.000 Aufrufe, also gut 130.000 mehr, als es laut BuWiK 2025 Wissenschaftler_innen aller Statusgruppen an deutschen Hochschulen gibt. Eine beachtliche Reichweite und eine Menge Aufmerksamkeit für ein Thema, das sich (vor)schnell als Nischenthema abtun ließe.
Zum Schämen für dieses Land ist vor allem, dass internationale Forschende durch die Abhängigkeiten der in Deutschland üblichen Kurzzeitbefristungen besonders getroffen werden — hängt doch ihr Aufenthaltstitel nicht selten daran, einen Arbeitsvertrag zu haben. Entsprechend groß ist der Druck, der auf ihnen lastet, sich Machtmissbrauch durch Vorgesetzte gefallen zu lassen — das wird auch in der Doku überdeutlich. „Kommt ins deutsche Wissenschaftssystem, hier bekommt Ihr einen befristeten Vertrag nach dem nächsten, wobei in der Regel keiner ausreicht, um Euer Promotions- oder Postdoc-Projekt abzuschließen — dafür seid Ihr hier aber extrem abhängig von mächtigen, annähernd unkündbaren Vorgesetzten und so auch einem erhöhten Risiko für Machtmissbrauch ausgesetzt!“ So müsste sie lauten, eine realistische Stellenausschreibung für unsere internationalen Kolleg_innen. Nicht sonderlich überzeugend, oder? Aber auch diejenigen, deren Aufenthaltserlaubnis in diesem Land nicht an einem Arbeitsvertrag hängt, sollten es sich sehr gut überlegen, ob sie sich derartigen Verhältnissen aussetzen wollen oder nicht. Bekanntermaßen kommen schon jetzt viele zu dem Schluss, das mit der Wissenschaft in Deutschland lieber bleiben zu lassen — nach dem Schauen der Doku oder der Lektüre des SPIEGEL-Artikels zum Machtmissbrauchs-Skandal in der MPG dürften es noch mehr werden.
Alle Mitglieder der Union und der SPD, die gegenwärtig am Koalitionsvertrag arbeiten, tun gut daran, sich die nun bekannt gewordenen Fälle sehr genau anzuschauen. Und sich klar zu machen: Die entfesselte Befristung, die das aktuelle WissZeitVG ermöglicht (immer noch, möchte ich hier mit deutlich spürbarer Ermüdung hinzufügen), schadet dem Wissenschaftsstandort Deutschland massiv. Sie erzeugt Abhängigkeiten zugunsten von Personen, die im System ohnehin sehr viel Macht innehaben und diese Abhängigkeiten auf erschreckende Weise ausnutzen können. Und ja, unter diesen mächtigen Personen sind durchaus welche, die genau das tatsächlich auch tun. Es dürften sehr viel mehr sein, als viele ahnen oder wahrhaben wollen.
Machtmissbrauch und Befristung: A Match Made in Hell
Gabriel Lando ist Physiker, ein gestandener Wissenschaftler. Und muss das Interview mit der Deutschen Welle abbrechen, weil ihm aufgrund der schlimmen Erinnerungen an seine Zeit in einem Max-Planck-Institut die Tränen kommen. Die Szene berührt, wahrscheinlich ganz besonders diejenigen von uns, die selbst Machtmissbrauch im deutschen Wissenschaftssystem erlebt haben. Das Thema ist in den letzten Jahren verstärkt in die Öffentlichkeit gerückt, nachdem Betroffene lange geschwiegen haben — sicherlich oft aus Angst, dass es das Ende ihrer Zeit in der Wissenschaft bedeuten könnte, wenn sie sich zu Verletzungen guter wissenschaftlicher Praxis und anderen Formen von Machtmissbrauch bis hin zu Übergriffen äußern würden.
Die Max-Planck-Gesellschaft geriert sich gern als Vorzeigeinstitution im deutschen Wissenschaftssystem. Eine Eigenheit des deutschen Systems exemplifiziert sie gewiss ganz hervorragend: das eklatante Machtungleichgewicht zwischen Vorgesetzten und abhängig Beschäftigten. Markenzeichen der MPG ist das Harnack-Prinzip, das um sogenannte Spitzenforscher_innen kreist, die ihr Personal nach Belieben aussuchen — und, wie es scheint, auch behandeln — können. Damit dieses Prinzip erhalten bleibt, macht die MPG fleißig Lobbyarbeit fürs Befristen. Dabei sehen wir gerade an der MPG, wo es hinführt, wenn Befristungen aus dem Ruder laufen. Das tun sie in der deutschen Wissenschaft nicht nur im Vergleich zum allgemeinen deutschen Arbeitsmarkt. Sie tun es auch im internationalen Vergleich innerhalb der Wissenschaft, wie ein von mir immer wieder gern zitierter Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags in aller Deutlichkeit festhält:
„Deutschland zeigt im internationalen Vergleich eine ausgeprägte Befristungspraxis, die deutlich über die Promotionsphase hinausreicht, was sich laut der nachfolgend ausgewählten Studien für andere Länder — sowohl innerhalb Europas als auch im Vergleich zu den USA — nicht belegen lässt.“
Es ist Deutschlands ausgeprägte Befristungspraxis, die das Tor zur Machtmissbrauchshölle sperrangelweit aufstößt. Die MPG mag hier ein Extrem sein. Aber um einen Eindruck vom gesamten Ausmaß der Problematik zu erhalten, lohnt sich die Lektüre der zahlreichen Kommentare unter der englischen und der deutschen Version der DW-Doku, die immer wieder darauf hinweisen, dass das deutsche Wissenschaftssystem als Ganzes betroffen ist. So lauten auch die beiden Kommentare mit der meisten Resonanz unter den mittlerweile über 1.500 Kommentaren zum englischen Video:
„As someone who did a PhD at a German University I can tell you, this is not just at Max Planck Institutes. The problem is with German universities in general, the professors are like kings. There is no accountability for professors, there’s no platform to give a feedback or lodge complaints. The short contracts and the uncertainty about contract extensions make it hell for foreign PhD students who also need to navigate Germany’s complicated residence permit system.“
„I doubt this documentary will come as a shock to any doctoral student in the sciences in germany. This is not a max planck problem, it's a german acad[e]mia problem.“
Machtmissbrauch ausbremsen durch Eindämmung von Befristung
Wie aber lässt sich dieses „german academia problem“ denn nun lösen — ein Problem (es nützt nichts, das zu leugnen), das seit vielen Jahren ein offenes Geheimnis ist? Nun: Zuallererst muss sichergestellt werden, dass das Verweigern eines Folgevertrags nicht mehr als Waffe Vorgesetzter gegen ihre abhängig Beschäftigten eingesetzt werden kann. Für die Promotionsphase kann das durch angemessene Mindestvertragslaufzeiten gelingen — vier Jahre für den Erstvertrag plus eine Verlängerung um zwei Jahre bei Bedarf. So ist immerhin einigermaßen sichergestellt, dass das Arbeitsverhältnis Promovierender nicht mitten in deren Promotionsphase endet und sie den Abschluss ihrer Promotion riskieren, wenn sie ein Fehlverhalten Vorgesetzter melden. Eine weitere zweckdienliche Maßnahme, um Abhängigkeiten für die Promotionsphase zusätzlich abzumildern, ist das Entkoppeln von Vorgesetzten- und Begutachtenden-Rollen: Im aktuellen System müssen Promovierende in Konflikten mit ihren Vorgesetzten oftmals sowohl um Folgeverträge als auch die Benotung ihrer Promotion bangen. Während die erste Abhängigkeit durch Mindestvertragslaufzeiten deutlich reduziert werden kann, ließe sich die zweite dadurch ausräumen, dass Vorgesetzte nicht auch noch Promotionsnoten verteilen.
Und was die Postdoc-Phase betrifft, wird es Zeit, dass Deutschland sich ehrlich macht (wie wir es bereits im Sommer 2022 im Blog von Jan-Martin Wiarda für das WissZeitVG gefordert haben): Es gibt kein überzeugendes Sachargument dafür, Postdocs zu befristen. Sie sind abschließend qualifiziert und kein unmündiger Nachwuchs mehr, wie es manch etablierter Wissenschaftler auch heute noch regelmäßig nahelegt (ob die dann wohl selbst gern wissenschaftliche Greise genannt werden möchten, wenn sie Menschen Mitte 40 unbeirrbar als „junge Leute“ bezeichnen?). Postdocs sollten folglich aus dem WissZeitVG ausgenommen werden. Es braucht zudem eine Offensive zur Schaffung von mehr unbefristeten Stellen neben der Professur, für die die Befristungshöchstquote ein hilfreiches Mittel darstellt.
Die so erfolgte Eindämmung der Kettenbefristungen würde nicht nur denen zugutekommen, die im deutschen Wissenschaftssystem arbeiten — sie würde auch sicherstellen, dass da zukünftig überhaupt noch Leute unterwegs sind, denen etwas zugute kommen kann. Denn der Wissenschaftsstandort Deutschland trägt durch seine Begünstigung von Machtmissbrauch mittels Kettenbefristung einen massiven Reputationsschaden davon, der potentiellen Bewerber_innen national wie international zu denken geben wird. Zeit, zu handeln: Ein klug ausgearbeiteter Koalitionsvertrag könnte einiges retten — man muss es nur wollen.