„ICH schaff das.“ Dieser Satz hängt mir seit einem Monat nach. Gesagt hat ihn Nele Matz-Lück in der ersten Folge des hörenswerten Podcast-Projekts Erschöpfte Wissenschaft, bei dem auch ich für eine #IchBinHanna-Folge zu Gast war. Nele Matz-Lück spricht in dieser Folge darüber, wie es zu ihrem Burnout kam. Gemeinsam mit Co-Host Marc Dechmann verfolgt sie den Weg zurück bis zu dem Punkt, als plötzlich nichts mehr ging. Wir hören von ihrer 82-Stunden-Woche, sie berichtet darüber, dass bei der Bewältigung ihres unglaublichen Arbeitspensums zunehmend diejenigen Punkte auf der Strecke blieben, die ihr Spaß machten — und erzählt, dass andere ihr gesagt haben: „Das kann man gar nicht schaffen!“ In diesem Kontext steht auch der Satz „Ich schaff das“: Für andere mag dieses Pensum tatsächlich unschaffbar sein. Aber Nele Matz-Lück hatte geglaubt, sie sei davon ausgenommen. Bis es zum Burnout kam und sie auf einmal gezwungen war, eine Vollbremsung zu machen. Von genau diesem Gedanken, dem Gedanken nämlich, irgendwie mehr schaffen zu können als die anderen, eben einfach diejenige Person zu sein, die das packt, die über sich (und die anderen!) hinauswächst, davon fühlte ich mich: ertappt. Seither habe ich viel nachgedacht darüber, warum es vordergründig so reizvoll erscheint, sowas wie der Chuck Norris der Arbeit in der Wissenschaft zu sein, das Unmögliche möglich zu machen, die personifizierte Leistungsfähigkeit zu werden, das Duracell-Häschen der Academia. Welche Anreize unser Wissenschaftssystem für genau dieses Verhalten setzt. Und warum all das nur Verlierer_innen produziert. Einige dieser Gedanken habe ich für den heutigen Newsletter aufgeschrieben.
Du bist was ganz Besonderes: Auserwählt zur Überarbeitung über alle Grenzen hinweg
So intensiv wir uns im Rahmen von #IchBinHanna auch mit den Fallstricken, Fehlanreizen und Problemen des Wissenschaftssystems befasst haben: Wir sind dennoch selbst innerhalb dieses Systems sozialisiert und ich stelle immer wieder fest, dass all die Analysen und Auseinandersetzungen keineswegs automatisch die Muster durchbrechen, die auch mir über viele Jahre antrainiert wurden. Darunter ist auch das Muster, davon auszugehen, dass das Überschreiten eigener Grenzen, das Arbeiten am Limit der eigenen Kräfte, das Durchziehen bis zur Erschöpfung, das Sich-Zusammenreißen, das Sich-nicht-so-Anstellen, das gewaltsame Zu-Ende-Bringen von etwas auf Kosten des eigenen Wohlbefindens und nicht selten der eigenen Gesundheit zumindest eines verspricht: Anerkennung. Damit meine ich einerseits die Anerkennung meiner Peers, die wie ich Teil einer Kultur sind, in der diese vermeintlichen Held_innengeschichten gefeiert werden: Etwas dann doch noch fertig bekommen zu haben, obwohl man selber längst völlig fertig war. Weitergegangen zu sein, ach was, gelaufen, nein, gesprintet, obwohl eigentlich gar nichts mehr ging. Toll, dass Du das geschafft hast, sagen wir dann. Und wir sagen es andererseits auch zu uns selbst: Wir haben wirklich alles gegeben, bis wir völlig alle waren, und obwohl das, was wir leisten, ja irgendwie nie genug ist in der Wissenschaft, fühlen wir uns für einen Augenblick vielleicht nicht ganz so unzureichend wie sonst (wenn wir vor lauter Erschöpfung überhaupt noch irgendwas fühlen). Und so feiern wir etwas, das das Gegenteil von Feiern verdient. Nein, damit meine ich nicht den Abschluss von Projekten, das Fertigstellen, den Fortschritt. Das alles sollte uns jede Anerkennung wert sein (die allzu oft ausfällt, weil wir zum Tagesgeschäft übergehen, zum nächsten Punkt auf der To-do-Liste). Was ich meine ist dies: Es ist kein bisschen cool oder lobenswert, gesunde Grenzen zu überschreiten. Warum machen wir es dann aber dennoch? Die vorherrschenden Anerkennungsmechanismen und Erwartungshaltungen mögen ein Grund sein. Die pure Angst um die eigene berufliche Existenz, die den Großteil von uns Wissenschaftler_innen in Deutschland umtreibt, ist ein weiterer. Und dieser Grund hängt mit etwas zusammen, das mein Nachdenken über den oben genannten Satz erst nach und nach zutage gefördert hat: Der heimlichen Idee, man gehöre zu den wenigen Auserwählten, die das groteske Arbeitspensum im Wissenschaftsbetrieb nicht in die Knie zwingt. Man sei eben deutlich leistungsfähiger als die anderen. Man sei insofern regelrecht dazu prädestiniert, ständig am Limit der eigenen Kräfte und darüber hinaus zu agieren — und sich damit zumindest zeitweise die eigene Mitwirkung am Projekt Wissenschaft zu sichern.
Das Motiv des Auserwähltseins kommt auch noch in anderem Gewand daher, wobei der Stoff, aus dem es gemacht ist, dem des Sich-auserwählt-Fühlens aufgrund von Leistungs- und Leidensfähigkeit erkennbar ähnelt. Ich denke dabei an den Satz „DU schaffst das“, gerne geäußert von Menschen, die es im System bereits zu einer der wenigen sicheren Positionen gebracht haben. Sie sagen diesen Satz oftmals mit vertraulich-verschwörerischem Unterton, und sie sagen auch Dinge wie „DU musst Dir keine Sorgen machen“, oder „Wenn DU nicht Professor_in wirst, wer dann?“ Ich kann die Male, in denen Menschen diese und vergleichbare Sätze zu mir gesagt haben, nicht mehr zählen. Hätte ich für jedes einzelne Mal ein zusätzliches Jahr befristete Beschäftigung in der Wissenschaft erhalten, hätte sich damit meine wissenschaftliche Tätigkeit locker bis zur Rente sichern lassen. Ein Grund für Zuversicht, dass so viele Leute an mich glauben — oder etwa nicht?
Tatsächlich hat meine eigene Zuversicht angesichts solcher Statements eher nicht zugenommen. Denn sie sind regelmäßig an Bedingungen geknüpft, die es in sich haben — und eine davon ist eben, weiterhin Vollgas zu geben. Opfer zu bringen. Das nicht Schaffbare irgendwie doch zu schaffen. Fast egal um welchen Preis. Und das Perfide dabei: Ich kann all das ganz genau so tun wie es von mir erwartet wird. Und am Ende wird es wahrscheinlich dennoch nicht reichen. „Was, wenn ich es nicht schaffe?“ möchte ich deshalb denjenigen entgegnen, die ihrer Zuversicht hinsichtlich meiner Karriereperspektiven so nachdrücklich Ausdruck verliehen haben. Was, wenn ich einen beachtlichen Teil meines erwachsenen Lebens außer Atem, mit Seitenstechen und Muskelkater in jeder Faser meines Körpers in Richtung eines Lebensziels gerannt bin, das ich nie erreichen werde? Die Zuversicht anderer taugt spätestens dann nicht mehr als Durchhalteparole, wenn man erkennt, dass Durchhalten im Zweifel eh nichts bringt außer Schmerz, Verzweiflung und ein sehr viel weniger schönes Leben, als es möglich gewesen wäre. Und selbst wenn ich es wider Erwarten schaffen sollte, ans Ziel zu kommen: Würde es all das wert gewesen sein?
Arbeit in der Wissenschaft: Ist sie zu hart, bist Du genau richtig — und sie das Problem
Ich gebe es zu: Ich habe mir eine Menge darauf eingebildet, ständig an der Grenze der Erschöpfung unterwegs zu sein. Auch ich höre oft die Frage „wie schaffst Du das nur?“ und sage darauf in der Regel, wahrheitsgemäß: „Das weiß ich selber nicht“. Viel zu selten sage ich aber dies: Ich schaffe es ganz oft auch nicht. Zu meiner Sozialisierung in einem Wissenschaftssystem mit toxischen Leistungsidealen gehört, dass ich kaum über all das spreche, was in der Erfolgsgeschichte meiner sogenannten Karriere, wie auch ich sie gezwungen bin zu erzählen, keinen Platz hat. Dazu zählt das Scheitern. Die Verzweiflung. Der innere Widerwillen, schon wieder etwas durchzuziehen, für das ich eigentlich keine Kraft mehr habe. Und dazu zählen auch die Tränen, die Erschöpfung und die Wut darauf, mit 38 immer noch im Befristungs-Limbus festzuhängen. All das zeige ich zu selten. Und trage damit dazu bei, dass auch andere glauben, was ich so gerne glauben würde: Dass ich irgendwie besonders geeignet bin für die akademische Karriere. Dabei sollte ich, sollten wir alle doch viel besser sagen: Wenn es DAS ist, was man angeblich für die akademische Karriere braucht, wenn es das ist, was dafür geschafft werden muss, dann soll diese akademische Karriere doch bitte ohne uns stattfinden. Wenn wir nur die zu Gewinner_innen erklären, die das Nicht-Schaffbare schaffen, dann werden wir alle zu Verlierer_innen. Denn das Nicht-Schaffbare ist eben genau das: Nicht schaffbar. Man kann sich aufreiben im Versuch, es doch zu schaffen. Sich selbst und anderen damit beweisen wollen, dass man es wert ist, in diesem System zu bestehen. Aber das geht eben nur bis zu einem gewissen Punkt, und oft geht mit dem Erreichen dieses Punkts dann auf einmal überhaupt nichts mehr. Etwas, worüber viel mehr gesprochen werden muss — gut, dass Nele Matz-Lück den Anfang gemacht hat. Auch die Podcast-Folge mit Marco Valero Sanchez ist zu diesem Thema sehr hörenswert, weil sie eindrücklich zeigt, dass das nicht zu bewältigende Arbeitspensum, das in der Wissenschaft erwartet wird, einige Menschen systematisch benachteiligt und von der Teilhabe ausschließt — diejenigen nämlich, die aufgrund von Behinderungen, chronischen Erkrankungen oder anderen gesundheitlichen Einschränkungen die überzogenen Erwartungen an die Arbeitsleistung erst recht nicht erfüllen können.
Es ist nichts falsch mit uns, wenn wir uns nicht ständig selbst überschlagen wollen und können, um ein übertriebenes Pensum zu absolvieren. Aber sind wir dann nicht ungeeignet für die Arbeit in der Wissenschaft, sieht sie doch genau das vor? Dass das so ist, ist kein Naturgesetz, das wir als gegeben hinnehmen müssen. Wir sind der toxischen Arbeitskultur im Wissenschaftssystem nicht ohnmächtig ausgeliefert. Die Standards dafür, Wissenschaft als Beruf auszuüben, gestalten wir. Aber wer ist dieses „wir“ und was braucht es, um die Standards zu verändern? Ich meine damit uns alle, die beruflich in der Wissenschaft tätig sind. Wir brauchen dringend role models, die zeigen, dass es auch anders geht. Ich freue mich aufrichtig über jede Person mit Lebenszeitprofessur, die dem Überbietungswettbewerb der Dauererschöpfung ihre Erzählungen von Erholung, genügend Schlaf, echtem Urlaub und Auszeiten entgegensetzt. Und über alle, die die Berichte über Arbeiten am Abgrund des Ausgebranntseins nicht zur Held_innenerzählung stilisieren, sondern offen sagen, was all das mit ihnen macht, und es als das benennen, was es ist: Teil einer Arbeitskultur, in der Menschen ernsthaft Schaden nehmen. Wissenschaft liegt uns allen am Herzen, sonst würden wir sie nicht betreiben. Aber das lässt sich auch machen, ohne ihr Lebensqualität und Gesundheit zu opfern — wollen wir uns selbst und anderen zeigen, wie das geht? Ich wage etwas Zuversicht und sage: „ICH schaff das“— und hoffe, viele andere machen mit!