Es gehört zu den bemerkenswerten Tatsachen des Arbeitens in der Wissenschaft, dass etwas so Alltägliches und Häufiges wie das Scheitern das erstaunliche Potenzial hat, tiefe Ängste bis hin zu Panik und sogar existenziellen Krisen auszulösen. Ich meine damit nicht allein das Scheitern in Bewerbungs- und Berufungsverfahren, bei dem die existenziellen Krisen sich nicht selten im wörtlichen Sinne einstellen — steht doch die berufliche Existenz für diejenigen, die in diesen Verfahren leer ausgehen, regelmäßig auf der Kippe. Auch das Scheitern auf inhaltlicher Ebene (wie das Experiment, das anders verläuft als erhofft, oder das Argument, das allen noch so hartnäckigen Versuchen zum Trotz einfach nicht aufgehen will) vermag es, Wissenschaftler_innen einigermaßen zu erschüttern. Das liegt in einem mächtigen Prinzip begründet, dass von der Publizierbarkeit der eigenen Forschung bis hin zum Bewilligungspotenzial von Drittmittelanträgen alle möglichen Teilbereiche unseres Wissenschaftssystems durchdringt. Kurz zusammengefasst lautet es: Nur erfolgreiche Forschung ist wertvolle Forschung! Erfolglose Forschung hingegen hat eigentlich keine Daseinsberechtigung — es gilt, sie am Besten sofort unter den Teppich zu kehren. Was Du nicht erfolgreich tust, darüber sollst Du schweigen: So in etwa werden wir in der Wissenschaft alle sozialisiert. Das aber ist ganz großer Blödsinn, denn es erzeugt nicht nur absurde Standards, denen niemand gerecht werden kann, sondern es schadet auch der Wissenschaft massiv. Denn (und das ist so trivial, dass es mir fast peinlich ist, es hinzuschreiben): Wir lernen auch aus Fehlern. Nicht nur aus den eigenen, auch aus denen der anderen. Und: Wenn wir endlich einmal live und in Farbe mitbekommen, wie oft andere scheitern — in diesem System, das paradoxerweise nicht nur auf dem Erfolgsprinzip basiert, sondern zugleich auch darauf, Scheitern systematisch in ganz großem Stil zu produzieren —, dann ist ein Anfang gemacht, um dem Scheitern seinen Schrecken zu nehmen. Wie und warum wir das tun sollten: Darum geht’s im heutigen Newsletter.
Erfolgreich auf Biegen und Brechen? Wissenschaft hätte mehr von Scheitern mit Stolz!
Wenn ich über alptraumhafte Episoden in meiner sogenannten wissenschaftlichen Karriere nachdenke, dann fällt mir direkt dieser eine Moment ein, in dem mir klar wurde, dass eine sehr zentrale Argumentation in meiner Dissertation nicht so aufging wie geplant. Ich hatte den Gegenstandsbereich meiner Untersuchung auf bestimmte Kopien beschränkt — Kopien nämlich, die selbst Artefakte sind und auch Artefakte zur Vorlage haben. Plötzlich dämmerte mir aber, dass Kopien zweiter und höherer Ordnung (also Kopien von Kopien usw.) von meinen Definitionen gar nicht plausibel erfasst wurden. Denn die hatten (anders als die Kopien, anhand deren ich die Definitionen entwickelt hatte) ja gerade keine Originale zur Vorlage! Was hier auf den ersten Blick wie eine Lappalie erscheinen mag, hatte tatsächlich gravierende Konsequenzen für die Architektur meiner Gesamtargumentation. Ich war zunächst im Schock und in Panik. Kam mir furchtbar dumm vor, erst nach Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Thema diese Sollbruchstelle in meinen Überlegungen entdeckt zu haben — und tat dann das Naheliegende: Ich sammelte Argumente dafür, den Gegenstandsbereich meiner Untersuchung auf Kopien erster Ordnung einzugrenzen. Argumente, die nicht lauteten: „ich habe mich vertan und muss das jetzt irgendwie ausbügeln“ oder „ich bin aktuell Empfängerin von Arbeitslosengeld, die Zeit läuft und ich kann beim besten Willen nicht mit allem von vorne anfangen“.
To be clear: Wer eine Studie über Artefaktkopien erster Ordnung lesen will, bekommt mit meiner Arbeit ziemlich sicher ein paar bedenkenswerte Überlegungen an die Hand — so weit haben mich die ewigen Demütigungs- und Erniedrigungsrituale des Wissenschaftssystems noch nicht, dass ich das hier heute bestreiten wollte. Aber: Ich habe seither oft gedacht, dass ich gern offensiver mit der Einsicht umgegangen wäre, dass mein ursprüngliches Vorhaben so nicht aufgegangen ist. Warum ich das nicht getan habe? Nun, die Sorge war zu groß, dass es sich negativ auf die Bewertung der Arbeit, deren Publikationschancen und meine Karriereperspektiven auswirken würde. Dabei hätte ich selbst und hätten auch alle Leser_innen wahrscheinlich sehr viel mehr davon gehabt, wenn ich das argumentative Scheitern explizit gemacht hätte. Zum einen aus inhaltlichen Gründen: Ich glaube, Argumente werden in der Regel nicht besser, wenn man versucht, deren Unstimmigkeiten zu kaschieren, damit sie bloß rundherum gelungen aussehen. Zum anderen aber auch, weil es offengelegt hätte, was wir eigentlich eh alle wissen, aber bestmöglich zu vertuschen versuchen: Wissenschaftler_innen sind Menschen. Sie machen Fehler.
Für Fehler aber ist in der Wissenschaft zumeist kein Platz. Mit der absurden Konsequenz, dass immer und immer wieder die in etwa gleichen Experimente, Forschungsvorhaben, Argumentationsstrategien erprobt werden — und still und leise in der Schublade verschwinden, wenn sie nicht gelingen. Damit Generationen von Forschenden dieselben Fehler nochmal machen. Und nochmal. Und nochmal. Statt bei den Kolleg_innen nachzulesen, dass der gewählte Ansatz keinen Erfolg hatte, und es deshalb von vornherein ganz anders zu versuchen. Deshalb: Wir brauchen in der Wissenschaft eine andere Kultur des Scheiterns. Eine, die das inhaltliche Scheitern als ein Mittel zum kollektiven Erkenntnisfortschritt begreift, statt es als individuelles Versagen einzuordnen und diejenigen, die wissenschaftlich in der Verantwortung stehen, dafür abzustrafen. Wissenschaftler_innen können noch so gut sein, noch so kenntnisreich und versiert in ihrem Gebiet: Das immunisiert nicht dagegen, dass ein Forschungsprojekt an die Wand fährt. Denn: Wenn wir schon vorher wissen würden, welches Vorhaben glücken wird und welches nicht, dann könnten wir uns gleich die ganze Forschung sparen. Das wissen wir aber nicht. Selbst dann nicht, wenn wir uns in einem Gebiet richtig gut auskennen. Statt also Wissenschaftler_innen das Scheitern in der Sache als mangelhafte individuelle Performance auszulegen, täten wir gut daran, die Sach- und die Personen-Ebene voneinander zu trennen. Und auch mal zu sagen: „Danke, dass Du mir gesagt hast, wie es nicht geht, damit nicht ich erneut Zeit, Energie und Geld investieren muss, um es genauso zu versuchen wie Du.“ Dass sich das auch in Begutachtungsverfahren für Publikationen und Anträge sowie im Umgang mit Bewerber_innen niederschlagen sollte, versteht sich von selbst: Der allgegenwärtige Zwang zum Gelingen erzeugt allerlei Fehlanreize, die nicht zuletzt so unerfreuliche Blüten treiben wie die Fälschung von Forschungsergebnissen.
Sie wollten uns nicht, und das können ruhig alle wissen!
Aber nicht nur das inhaltliche Scheitern muss dringend raus aus dem verschämten Hintergrund und ab in die Öffentlichkeit. Auch das berufliche Scheitern sollte mehr in den Fokus gerückt werden. Laut Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021 beträgt die Wahrscheinlichkeit, bei der Bewerbung um eine Professur auf der Liste zu landen, etwa 10%. Die Chance, mit einem Listenplatz berufen zu werden, liegt bei 46%. Für befristete Postdocs liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dauerhaft in der Wissenschaft arbeiten können (die wenigen existierenden Dauerstellen eingeschlossen), lediglich bei 31%. Und auch bei den geringen Bewilligungsquoten für viele Drittmittelförderlinien kommt wirklich keine Freude auf. In aller Regel gilt: Dass Wissenschaftler_innen, die sich um Stellen oder Forschungsgelder bemühen, dabei scheitern, ist um einiges wahrscheinlicher als dass sie dabei erfolgreich sind.
Je offensiver wir mit diesen Misserfolgen umgehen, desto deutlicher zeigen wir uns und anderen, dass auch hier die Gründe vielfach keineswegs in unserer ganz persönlichen Unzulänglichkeit zu suchen sind. Wenn sich 120 Wissenschaftler_innen um eine Professur bewerben, können noch so viele davon einschlägig für die ausgeschriebene Stelle sein, brillante Lebensläufe vorgelegt sowie vielversprechende Forschungskonzepte eingereicht haben: Es gibt weiterhin genau eine Professur. 119 Bewerber_innen werden zwangsläufig leer ausgehen, egal wie viele von ihnen ‚professorabel‘ sind. Wenn wir offen darüber sprechen, was wir alles versucht haben und was davon alles nicht geklappt hat, dann helfen wir einander auch, die Chancen auf eine akademische Karriere realistischer einzuschätzen — und uns die Rahmenbedingungen (Berufungsverfahren, die Jahre dauern, um dann am Ende doch eingestellt zu werden usw.) in ihrer vollen Härte vor Augen zu führen. Nicht die Wissenschaftler_innen sind Versager_innen, weil sie immer wieder scheitern: Es ist das System, das versagt, wenn es mit „setting you up to fail“ als geheimem Wirkprinzip seinen besten Leuten immer wieder Stöckchen in die Fahrradspeichen steckt — so lange, bis die darauf keinen Bock mehr haben.
Reden wir also öfter und offener über das Scheitern, sei es das inhaltliche oder das berufliche. Ich bin sicher, es macht uns klüger. Und wenn wir Glück haben, lernen nicht nur wir Wissenschaftler_innen daraus, sondern auch das Wissenschaftssystem, dem realistischere Standards, mehr Karrierechancen und sehr viel weniger unproduktiver Wettbewerb wirklich gut zu Gesicht stünden. Denn ein System, das seine Mitglieder systematisch scheitern lässt, um sie anschließend dafür abzustrafen, ist letztlich seinerseits zum Scheitern verurteilt — und bis wir aus diesem Scheitern gelernt haben werden, ist es für den Wissenschaftsstandort Deutschland vermutlich längst zu spät.