Wie die Wissenschaft sich selbst in Ketten legt: Von Großverlagen und Drittmitteln
Wissenschaft sollte frei und offen sein. So, dass sie ihre Rahmenbedingungen selbst wissenschaftsförderlich gestalten kann. Dass sie Teilhabe und Austausch ermöglicht. Zukünftige Wissensproduktion befördert, statt sie zu blockieren. Und nicht zuletzt sollte sich Wissenschaft einer Einflussnahme von außen so weit wie möglich erwehren. Das gilt etwa, wenn Forschung in den Dienst externer Zwecke gestellt werden soll, zum Beispiel im Rahmen fragwürdiger Verwertungslogiken. Oder wenn ihr Eingriffe oder gar eine Steuerung durch politische Akteur_innen drohen — wie das konkret aussehen kann, hat uns zuletzt die Fördergeldaffäre in höchst irritierender Weise vor Augen geführt. Gleichwohl kommen keineswegs alle Bedrohungen der Freiheit und Offenheit unserer Wissenschaft von außen. Einige sind (mindestens in Teilen) hausgemacht und werden wissenschaftsintern immer weiter vorangetrieben, statt sie zu unterbinden: Statt seine Freiheit zu kultivieren, zu gestalten und zu schützen, hat sich das Wissenschaftssystem ohne Not in diverse Abhängigkeiten begeben und arbeitet ihnen auch noch beständig weiter zu — zum Schaden der Wissenschaft, ihrer Institutionen und Mitglieder. Letzte Woche habe ich an der Universität Bern zu dieser Problematik einen Vortrag gehalten — und dabei vor allem drei Abhängigkeiten in den Blick genommen: die von Großverlagen, von Drittmitteln und von KI. Die Kernüberlegungen aus meinem Vortrag zu den Abhängigkeiten von Großverlagen und Drittmitteln möchte ich heute im Rahmen dieses Newsletters teilen: Wie kommen diese Abhängigkeiten zustande, warum halten sie sich so hartnäckig, inwiefern richten sie Schaden an — und was kann getan werden, um sie endlich aufzubrechen? (Wer etwas Ausführlicheres zu den der Wissenschaft drohenden Abhängigkeiten durch KI lesen möchte, wird hier fündig.)
Selbstverschuldete Abhängigkeit 1: Alle Macht den Großverlagen!
Dass die Wissenschaft in erschreckendem Maße von Großverlagen abhängig ist, ist keine neue Erkenntnis. Dabei sind die Abhängigkeiten durchaus vielfältig: Auch, wenn der Kulturwandel hin zu einem von Open Access getragenen Publikationssystem längst in vollem Gange ist, bleiben Teile des alten Systems weiterhin bestehen. In diesem alten System hängt der Zugang zu Publikationen an teuren Abos (oder grotesk hohen Summen für den Zugang zu Einzelpublikationen). Das Problem: Weil die Wissenschaft nicht einfach auf diesen Zugang verzichten kann und will — man muss schließlich neue Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen und darauf aufbauen, um die eigene Forschung in zielführender Weise voranbringen zu können —, können die Großverlage die Preise für die Abos munter immer weiter anheben: Eine Abhängigkeit mit gravierenden Folgen für die Budgets öffentlicher Forschungs- und Bildungseinrichtungen (dazu gleich mehr). Aber es ist nicht nur diese ganz praktische Abhängigkeit, die uns Grund zur Beunruhigung geben sollte. Denn auch das wissenschaftliche Reputationssystem hängt wesentlich von den Großverlagen ab: Wer in der Wissenschaft etwas werden will, hat gefälligst in renommierten Journals zu publizieren — und die sind nicht selten bei genau diesen Großverlagen angesiedelt.
Nun werden diese Abhängigkeiten auch durch den aktuellen Open-Access-Turn offenkundig nicht aufgebrochen, solange für entsprechende Publikationen teure Article Processing Charges und andere Zuschüsse fällig werden: Hier wird der Zugang zu Publikationen um den Preis des Zugangs zum Publizieren erkauft. Das schafft weder Abhängigkeiten noch Ungerechtigkeiten aus der Welt — es verschiebt sie nur. Erschwerend kommt hinzu, dass die Großverlage sich immer neue Möglichkeiten zum Profitgewinn im digitalen Raum erschließen, darunter das Messen zusätzlicher Impact Factors, Tracking und andere Formen der Monetarisierung von Daten.
Die Schäden, die das Wissenschaftssystem durch diese Abhängigkeiten davonträgt, sind enorm. Da ist zunächst der wirtschaftliche Schaden, denn die Wissenschaft zahlt im aktuellen Publikationssystem doppelt: zum einen mit der Arbeitsleistung von Wissenschaftler_innen, die in der Regel im Rahmen ihrer öffentlich finanzierten Anstellung Publikationen verfassen und deren Qualität durch Peer Review, Herausgeberschaften usw. sichern — Leistungen, die den Verlagen oftmals unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen wird von den wissenschaftlichen Einrichtungen für die Publikationen selbst gezahlt — sei es für den Zugang zu ihnen im alten Abo-System oder für das Publizieren im goldenen Open-Access-Regime.
Warum aber bleiben diese gravierenden Abhängigkeiten bestehen, ihren immens hohen Kosten zum Trotz? Es ist bereits zur Sprache gekommen, wie entscheidend hier das Reputationssystem innerhalb der Wissenschaft ist — das basiert nun mal wesentlich auf prestigeträchtigen Publikationen in Großverlagen. In Kombination mit dem vorherrschenden Fehlanreiz publish or perish, der ebenfalls Teil dieses Reputationssystems ist (viel publizieren erhöht Anerkennung und damit auch Karrierechancen) und der eine regelrechte Publikationsflut provoziert, werden so gleichzeitig neue, noch unbekannte Journals ausgebremst. Denn wenn Berufungskommissionen in Bewerbungsverfahren mit zahlreichen mehrseitigen Publikationslisten zugeschmissen werden, bleibt ihnen kaum die Möglichkeit, die einzelnen darauf befindlichen Publikationen eingehend zu würdigen. (Und mit „Würdigen“ meine ich hier dessen minimalste Form, auch bekannt als „Lesen“.) Stattdessen liegt es nahe, die Abkürzung zu wählen: Man schaut, welche prestigeträchtigen Journals unter den Publikationsorten sind. Wer viele davon vorzuweisen hat, wird im Verfahren aller Voraussicht nach punkten. (Klar, im Anschluss an so eine Vorauswahl wird sicherlich auch mal etwas von den Publikationen gelesen. Aber wer nicht bis hierhin kommt und vorher rausfliegt, kann noch so tolle Texte in No-Name-Journals veröffentlicht haben: für die Karrierechancen trägt das wenig aus.) Vor allem Wissenschaftler_innen ohne unbefristetes Arbeitsverhältnis können es sich kaum leisten, von Publikationen in Großverlagen Abstand zu nehmen, weil sie auf deren Renommee setzen müssen, um ihre ohnehin überschaubaren Karrierechancen zumindest etwas zu erhöhen. Von diesen Wissenschaftler_innen gibt es gerade in Deutschland eine ganze Menge (wir erinnern uns: 92% der Wissenschaftler_innen unter 45 ohne Professur sind befristet beschäftigt), sodass Deutschland mit seiner mangelhaften wissenschaftlichen Personalpolitik neben allen anderen negativen Effekten auch noch das verheerende Großverlagswesen mit befeuert.
Selbstverschuldete Abhängigkeit 2: Hauptsache Drittmittel, Forschung egal
Aber das Publikationswesen ist nicht das einzige Teilelement des Wissenschaftssystems, das problematische Abhängigkeiten produziert. Da ist zum anderen auch der ständige Wettbewerb um Drittmittel. Dass dieser Wettbewerb Wissenschaft von allerlei Faktoren abhängig macht, die bestenfalls kontingent und nicht selten sogar schädlich sind, liegt auf der Hand: Statt sich Themen und Zeitpläne für Forschungsprojekte frei zu wählen — so, wie es aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll und zielführend wäre —, sind Wissenschaftler_innen den wechselnden Vorgaben von Förderlinien unterworfen. (Dabei ginge das auch anders, s. hier.) Das erzeugt einen Zwang zum Gelingen unter Zeitdruck, statt die Freiheit für Irrwege, Umwege, Scheitern und Neuanfänge einzuräumen, die für wissenschaftliche Erkenntnisse so wichtig sind.
Man gewinnt zudem immer wieder den Eindruck, dass Drittmittelerfolge inzwischen mehr zählen als Forschungsergebnisse. Mehr als einmal habe ich zuletzt Kooperationsanfragen für gemeinsame Antragsvorhaben abgesagt mit der Begründung, dafür keine Zeit zu haben — und musste dann die Erläuterung nachschieben, dass es mir nicht an der Zeit fürs Antragschreiben mangelt, sondern an der Zeit für eine seriöse Durchführung des Projekts, die im Falle einer Bewilligung ja auch noch irgendwie stattfinden soll. Die Gamification des wissenschaftlichen Antragswesens scheint so weit gediehen zu sein, dass manche Kolleg_innen nur noch bis zu dieser Bewilligung denken — damit scheint das höchste Level des Drittmittelspiels erreicht, man kann die Einwerbung von Mitteln innerlich abhaken. Und wenn dann überhaupt noch wen interessiert, was danach kommt, gilt dieses Interesse anscheinend nicht selten dem nächsten Antrag und weniger dem frisch eingeworbenen Projekt.
Nun ließe sich einwenden: Dies aber ist — anders als die Abhängigkeit von Großverlagen — eine Abhängigkeit, die nicht selbstverschuldet ist, sondern von außen an die Wissenschaft herangetragen wird. Schwindende Grundfinanzierung, politischer Steuerungswillen und andere Faktoren haben das Drittmittelwesen erst so wuchtig gemacht, wie es derzeit ist; die Wissenschaft kann eigentlich gar nichts dafür. Oder? Nun, wer so argumentiert, macht es sich zu leicht. Denn wir als Wissenschaftscommunity haben die Einwerbung von Drittmitteln sehenden Auges zum integralen Bestandteil des vorherrschenden wissenschaftlichen Reputationssystems gemacht. Wie schon die Publikationen, die man hübsch quantifizieren kann (wie viele insgesamt?, wie viele renommierte Journalpublikationen?, wie hoch sind die Impact Factors?) kann man auch Drittmittel wunderbar zählen. Das erzeugt eine bestechend simple Form der Vergleichbarkeit. Wenn Bewerber_in A 500.000 € Drittmittel hat und Bewerber_in B hat 100.000 €, dann fällt es leicht zu entscheiden, wer in dieser Hinsicht vorne liegt. Das geht weit weniger leicht, wenn Bewerber_in A und B hinsichtlich ihrer je individuellen Forschungsprofile miteinander verglichen werden sollen. Obendrein ist es im Interesse der Drittmittel-Gewinner_innen, das System genauso zu erhalten, wie es jetzt ist. Denn ohne Drittmittel wären sie ja keine Gewinner_innen mehr, sondern bloß ganz gewöhnliche Forschende wie alle anderen auch! Und schicke Pressemeldungen über Drittmittelerfolge wären auch Geschichte, würde man die Gelder auf andere Weise verteilen.
Die Zeit, die in wettbewerbliche Verfahren zur Vergabe von Drittmitteln fließt (sei es aufseiten der Antragsteller_innen oder der Gutachter_innen) fehlt derweil für die eigentlichen wissenschaftlichen Kernaufgaben: Forschung und Lehre. Wissenschaftler_innen stehen angesichts des allgegenwärtigen Dauerwettbewerbs um Gelder unter dem Druck, ständig miteinander zu konkurrieren, statt miteinander zu kooperieren — dass das dem Gemeinschaftsprojekt Wissenschaft zuträglich ist, muss bezweifelt werden. Und solange die Mitglieder des Wissenschaftssystems Drittmittel weiterhin als integralen Bestandteil des Reputationssystems pushen, provozieren sie, dass darüber eine inhaltliche Steuerung von Wissenschaft möglich bleibt, die zulasten der Wissenschaftsfreiheit geht — die Fördergeldaffäre war hier nur die Spitze des Eisbergs.
Wissenschaft, überdenke Deine Reputationsmechanismen!
Muss sich das Wissenschaftssystem denn nun mit den Abhängigkeiten von Großverlagen und Drittmittelwesen abfinden — oder kann es sie durchbrechen? Eine gemeinsame Wurzel beider Abhängigkeitsübel ließ sich schnell ausmachen: das wissenschaftliche Reputationssystem. Und ja, es wäre durchaus möglich, das zu verändern. Wir als Wissenschaftsgemeinschaft haben die Macht dazu — aber eben nicht als Einzelne, sondern wirklich als Gemeinschaft. Wir können uns darauf verständigen, in Besetzungs- und Berufungsverfahren anderen Faktoren mehr Gewicht zu geben und uns nicht länger von vielen schick platzierten Publikationen und hohen Drittmittelsummen blenden zu lassen. Wir können — etwa über die wissenschaftlichen Fachgesellschaften — alternative Reputationsmechanismen diskutieren und etablieren und darüber auch Mitglieder des eigenen Fachs (vor allem die auf unbefristeten Stellen) dazu aufrufen, auf nicht profitorientierte Open-Access-Modelle zu setzen. Dann gewinnen die auch endlich mehr an Relevanz. Und wir können als Community dem völlig aus dem Ruder gelaufenen Hype um Drittmittel eine Absage erteilen.
Allen, die nun zu bedenken geben, dass die für all das nötige eingehende Betrachtung sämtlicher Bewerber_innen nicht machbar sei, solange sich 100 und mehr Leute auf eine Professur bewerben, sei dies gesagt: zum einen wird das ziemlich sicher kein Dauerzustand mehr sein, weil schon jetzt viele gar keinen Bock mehr haben, beruflich auf diese Karte zu setzen. In vielen Disziplinen ist das bereits zum Problem geworden. Und zum anderen wäre das ein weiteres richtig gutes Argument dafür, endlich mehr attraktive unbefristete Stellen neben der Professur zu schaffen, damit nicht mehr alle allein auf eben jene Professur als Ziel all ihrer Bemühungen setzen müssen. Mit mehr derartigen Stellen gäbe es nicht nur mehr unabhängigere Wissenschaftler_innen, ihre Einrichtung wäre auch ein Schritt hin zu einer deutlich unabhängigeren Wissenschaft — und dem notorischen Verpulvern von Geldern, Zeit, Expertise und anderen wertvollen Ressourcen würde endlich etwas entgegengesetzt.
Wer meinen Vortrag an der Uni Bern in Gänze nachhören möchte, findet hier ein Video mitsamt Präsentationsfolien.