Zu viele Optionen! Wissenschaftliche Karrierewege als Labyrinth mit vielen Sackgassen
von Kristin Eichhorn
Heute freue ich mich noch einmal über einen Gastbeitrag von meiner Urlaubsvertretung Kristin Eichhorn. Aber jeder Urlaub hat ein Ende (auch einer, der wegen der Entwicklungen in Sachen WissZeitVG und einer Bewerbung nur ein halber war — aber das ist ein anderes Thema …): Ab der kommenden Woche geht es dann wieder mit Beiträgen von mir weiter!
Am 19. September 2023 hat Amrei Bahr an dieser Stelle einen Beitrag mit dem Titel „Lehrstuhl oder Schleudersitz?“ veröffentlicht, dessen Untertitel die Forderung formuliert: „Wir brauchen mehr Optionen!“ Dieser Satz stimmt und er stimmt nicht.
Was damals gemeint war: Wer in der Wissenschaft dauerhaft arbeiten will, hat fast nur eine Chance darauf, wenn irgendwann der Ruf auf eine Professur erfolgt. Unbefristete Stellen neben der Professur sind rar — und wenn die Einführung solcher Stellen angedacht ist, werden ganz schnell Anforderungsprofile sichtbar, die doch wieder an die Professur erinnern. Wenn man aber die Habilitationsäquivalenz zur Voraussetzung von Entfristung per se macht, dann nivelliert man den Unterschied zur Professur und schafft nur eine weniger renommierte und kostengünstigere ‚Alternativoption‘ für diejenigen, die es nicht auf die Professur ‚geschafft‘ haben (eine Art Abstellgleis sozusagen). Was eine Neuordnung der wissenschaftlichen Personalstruktur aber braucht, sind Stellentypen, die Entfristung zur Regel machen, ohne dieselben astronomischen Anforderungen zu stellen, die man auch für die Berufung vorweisen muss. In dieser Hinsicht stimmt der Satz also: Ja, wir brauchen mehr Optionen.
Nun zu der Lesart, in der er nicht stimmt: Wir haben schon zu viele Optionen. Pluralität hört sich gut an — als wäre für jeden etwas dabei. Aber sie ist nicht nur unübersichtlich, sondern blockiert auch regelmäßig aus formalen Gründen Entwicklungsmöglichkeiten und Stellenbesetzungen, die eigentlich wünschenswert wären.
Wo bitte geht es hier zur Professur?
Wer aktuell versucht, eine langfristige Stellenperspektive in der Wissenschaft zu erlangen, wird mit zahlreichen Wegen und Unwägbarkeiten konfrontiert, selbst wenn man dabei einzig die Professur auf Lebenszeit als Ziel im Blick hat. Spätestens seit Einführung der W-Besoldung vor etwa zwei Jahrzehnten gibt es hier mehrere Möglichkeiten. Da ist zunächst der ganz traditionelle Weg, den manche Fächer auch noch sehr stark befürworten, während ihn andere längst ad acta gelegt haben: Man macht sich nach der Promotion daran, ein weiteres Buch zu schreiben, mit dem man sich habilitiert und so die Berufbarkeit erreicht.
Nun wollte man vor gut zwanzig Jahren die Habilitation eigentlich abschaffen und führte deshalb einen alternativen Karriereweg ein, der den bisherigen ergänzte: die Juniorprofessur. Hier die Idee: sich nicht habilitieren, aber durch erfolgreiches Absolvieren dieser Phase dennoch die Berufbarkeit erreichen. Die Juniorprofessur war in den meisten Fällen ohne weitere Perspektive befristet, sodass man anschließend dasselbe tun konnte bzw. musste wie die habilitierte ‚Konkurrenz‘ — sich auf Lebenszeitprofessuren bewerben.
Noch mehr Karrierewege!
Richtig wild wird es aber, weil das noch nicht die zwei einzigen Optionen sind. Durch die entsprechende Förderung des Bundes hat in den letzten Jahren die Zahl der Tenure-Track-Professuren zugenommen. Eine gute Sache, sollte man meinen, denn durch den vorgesehenen Übergang einer befristeten in eine unbefristete Professur wird ein höheres Maß an Planbarkeit gegeben. Angedacht ist auch hier, dass man diese Professur möglichst bald nach der Promotion antritt. Das heißt in der Regel also ohne Habilitation(säquivalenz), zu einem Zeitpunkt, wo man auf eine Lebenszeitprofessur direkt noch nicht zu berufen wäre. Damit stellt sich die Frage, wie man in entsprechenden Verfahren mit habilitierten Bewerber_innen umgeht. Man muss sie im Prinzip ausschließen — zumindest wenn die Stellen nach dem Bundesprogramm finanziert sind, da dieses explizit auf die Förderung einer „frühen Karrierephase“ zielt. Dies benachteiligt allerdings diejenigen, die schon habilitiert, aber weiterhin auf Stellensuche sind. Selbst wenn durch das Programm neue Professuren entstehen mögen — so viele wirklich passende sind es im konkreten Einzelfall dann doch wieder nicht.
Überdies ist der Begriff der Habilitationsäquivalenz vage. Man behilft sich also mit festen Jahreszahlen: Für bestimmte Stellentypen und Förderprogramme, die sich an den „Nachwuchs“ wenden, darf zum Beispiel die Promotion maximal sechs Jahre zurückliegen. Danach kommen diese Stellen nicht mehr in Frage, denn man gilt als ‚berufbar‘ (ist es aber gleichzeitig ohne ‚echte‘ Habilitation oder positiv evaluierte Juniorprofessur in vielen Verfahren eben doch nicht). Und die Zeit ist schnell vorbei, wenn man Krankheiten, Kinderbetreuung und andere Hindernisse einrechnet, die im Leben so vorkommen können und für die nicht zwingend immer eine Ausnahme gemacht wird.
Auf in die Sackgasse!
Auf diese Weise entsteht eine Situation, in der es für die Einzelnen schlicht nicht mehr kalkulierbar ist, wie ihr akademischer Werdegang aussehen wird. Da Wissenschaft ein stark spezialisierter Arbeitsmarkt ist, hat man in der Regel ohnehin inhaltlich nur wenige Stellen zur Verfügung, auf die man sich bewerben kann. Diese werden durch die formalen Voraussetzungen der unterschiedlichen Karrierewege zusätzlich beschnitten: Hat man die Habilitation(säquivalenz) nicht, fallen W2- und W3-Professuren auf Lebenszeit in vielen Fächern vorerst aus. Hat man die Habilitation(säquivalenz), kann man sich hingegen nicht mehr auf W1-Professuren (und häufig auch nicht auf TT-Professuren) bewerben. Ist die Promotion mehr als sechs Jahre her, geht das ebenfalls nicht ohne Weiteres, selbst ohne Erfüllung der traditionellen Berufbarkeitskriterien. Will man schließlich als Alternative den Ausstieg aus der Wissenschaft ins Auge fassen, sollte man auch nicht zu lange warten, da die anderen Branchen mit den akademischen Qualifikationen der Postdoc-Phase in der Regel nicht viel anzufangen wissen und über- oder fehlqualifizierte Berufsanfänger_innen mit Mitte/Ende vierzig nicht die erste Wahl sind.
Somit gleicht die wissenschaftliche Karriere einem Labyrinth, in dem zunächst die meisten Wege verschlossen sind und sich erst durch bestimmte Qualifikationen öffnen. Allerdings führen diese Qualifikationen und das reine Verstreichen von Zeit parallel dazu, dass sich andere Türen für immer schließen. Im Laufe des Prozesses kommen zwar neue Wege hinzu, die anfangs gar nicht da waren. Diese kann jedoch nur einschlagen, wer zufällig gerade an der richtigen Weggabelung steht. Wer nicht, hat Pech gehabt.
Die auch im berühmten ‚Hanna-Video‘ von 2018 als notwendig hervorgehobene ‚Planung‘ einer wissenschaftlichen Karriere ist somit umso mehr Spott und Hohn. Letztlich laufen die Beschäftigten nur verzweifelt von einer Sackgasse in die nächste — und wenn sie zum Ziel kommen, ist oft nicht so recht klar, warum eigentlich. Man kann es im Nachhinein vielleicht sagen, aber während man das Labyrinth durchläuft? Keine Chance.
Die Gartenschere ansetzen, um wissenschaftliche Arbeit wieder attraktiv zu machen!
In der vorletzten Woche hat eine DHZW-Befragung für Aufsehen gesorgt, derzufolge ein sehr großer Teil der in der Wissenschaft Beschäftigten über den Ausstieg nachdenkt. Es ist kein Wunder. Das Wissenschaftssystem verliert mit seiner unübersichtlichen Karrierewegstruktur Personal, weil die so unflexibel ist, dass Menschen, die für eine Stelle prinzipiell gut geeignet wären, aus oft willkürlich anmutenden formalen Gründen nicht genommen werden können. Diesen Unwägbarkeiten wollen sich viele nicht mehr aussetzen.
Deshalb gehört zu einer vernünftigen Reform der wissenschaftlichen Personalstruktur nicht nur die Schaffung zusätzlicher Karrierewege neben der Professur, sondern dringend auch die Eindämmung des aktuellen Karriereweg-Wildwuchses, der am Ende niemandem nützt. Er ist aus guten Intentionen entstanden: Mit den ganzen Programmen und Stellentypen will man ja meist eine bestimmte, bisher benachteiligte Gruppe adressieren. Unter dem Strich kommt aber eine Verschlechterung der Gesamtsituation für alle heraus. Die Hecken unseres Labyrinths müssen dringend zurückgeschnitten werden, damit wieder ein gesundes Wachstum möglich wird — und der Blick nicht länger verstellt ist auf das, was effektiv zu tun ist, um eine unbefristete Beschäftigung in der deutschen Wissenschaft zu erreichen.
Es braucht also durchaus wieder weniger Karrierewege — vor allem weniger, die sich gegenseitig ausschließen. Und es muss möglich sein, sich auf alle inhaltlich passenden Stellen zu bewerben und dann ggf. die formalen Rahmenbedingungen den Bewerber_innen anzupassen, wie es in anderen Ländern durchaus geschieht, statt diese zum Ausschlusskriterium zu machen. Auch in der Wissenschaft ist der Fachkräftemangel angekommen — und an vielen Stellen hausgemacht. Legen wir also ein System an, das durchdachte Karrierewege eröffnet — eine geeignete Reform des WissZeitVG sollte dafür ein erster Schritt sein, dem natürlich weitere folgen müssen. Nur so kann Wissenschaft in Deutschland wachsen und gedeihen, statt Wissenschaftler_innen auf Irrwege zu führen, bis sie sich im Gestrüpp verlieren und irgendwann resigniert das Labyrinth wissenschaftlicher Karrierewege verlassen.